Artikel aus "Astrologie ohne Dogma - eine soziologische Annäherung" (Astronova)


Theorien mit Universalitätsanspruch sind leicht daran zu erkennen, dass sie selbst als ihr eigener Gegenstand vorkommen (denn wenn sie das ausschließen wollten, würden sie auf Universalität verzichten müssen). […] Theorien mit Universalitätsanspruch sind also selbstreferentielle Theorien. Sie lernen an ihren Gegenständen immer auch etwas über sich selbst.

Niklas Luhmann

 

Unsere Anschauungen sind nicht die Realität, sondern nur eine Re-Konstruktion von den Dingen, die wir zu sehen glauben. Der Baum ist für jeden Menschen ein anderer. Wir müssen uns verständigen, um in dem einen Baum für den (entscheidenden) Moment das Prinzip des Apfelbaums, im anderen den Schattenspender und im dritten eine Gefahr durch herabfallende Äste zu sehen. Eine der Grundfragen der Philosophie ist, ob es Prinzipien für unsere Wahrnehmung gibt, die nicht von der subjektiven Einschätzung abhängen und immer und überall gelten. Zeit, Raum und Kausalität scheinen Kandidaten für „fundamentale Größen“ der Wissenschaft, für „hinter den Phänomenen“ stehende Grundprinzipien zu sein. Doch auch sie sind hinterfragbar, bzw. ineinander überführbar. Die Zeit entsteht aus dem Vergleich von Gegenwart und Vergangenheit, sie ist eine Projektion subjektiver Erfahrungen auf ein ungewisses Morgen. Sie möchte Dinge festhalten, die sich in Veränderung befinden, indem sie eine Beziehung zwischen vorher und nachher herstellt. Doch dieser kausale Bezug zwischen zwei unterschiedlichen Ereignissen (Stein fliegt in Scheibe, Scheibe zerbricht) ist von den erlernten Anschauungen abhängig. Es gibt keine Garantie, dass die Scheibe nicht zeitgleich zum Aufprall des Steines, doch unabhängig von diesem, in sich zusammengefallen ist, bzw. diese Garantie gibt es nur in sehr speziellen Ausschnitten Newtonscher Physik, die für den Alltag unwesentlich ist. Ansonsten finden immer alle möglichen Ereignisse gleichzeitig statt, deren Zusammenhang wir immer nur erahnen können.

Je mehr Koordinaten und Formeln wir einführen, um den Sachverhalt zu beweisen, desto abstrakter wird die Aussage, die auf den Einzelfall zurückgeführt werden muss. Im Falle von Steinen, die in Scheiben fliegen, ist dies nicht problematisch. Das Leben besteht aber aus Bezügen, die nicht so offensichtlich sind. Der Bezug, von dem wir ausgehen, sind wir selbst, unsere eigene Biographie und die eigenen Erfahrungen, die wir immer wieder in eine Ordnung bringen müssen, in der wir uns sowohl logisch verständlich machen, als auch die von uns selbst erzeugten Mythen und Widersprüche auflösen müssen. Die Sehnsucht, sich selbst zu erfahren, ist ein Resultat des Verlustes der Selbstverständlichkeit des Lebens und der Funktionalisierung des modernen Alltags, in dem der Mensch nicht mehr unbedingt gebraucht wird, um „die Maschinerie“ am Laufen zu halten.

 

Diese „Moderne“ fing schon vor vielen Jahrtausenden an, als der Mensch nach Bezugspunkten im Kosmos suchte, an denen er seine eigene Existenz festmachen konnte.  Der Angst vor der Übermacht der Natur wurde die Technik entgegengestellt, aber dieselbe Technik knebelte den Menschen an unflexible Systeme, die wiederum Angst machten. In dieser Maschinerie ist die Zeit das, was Heidegger als „das Vorlaufen zum Tod“ bezeichnete. […Angst, Vorlaufen zum Tode und Gewissensruf müssen radikale Erfahrungen des Möglichseins, der Offenheit und Unbestimmtheit des Daseins sein, und zwar so radikal, dass sie das Verfallen in Bestimmtheit, die „Uneigentlichkeit“ unterbrechen können (…). In der Angst wird die Offenheit der Welt dadurch erfahren, dass man keine Möglichkeit, in ihr zu sein, ergreifen kann…][1]

 

Zeit ist also etwas, was man dialektisch als Negativum bezeichnen könnte. Sie erscheint, wo etwas aus der Einheit, aus dem gewohnten Zusammenhang gerät und umschrieben werden muss. Subjektive Zeit ist zunächst eine Erwartung der Zukunft, die aus Erinnerungen in der Vergangenheit besteht und die eine verbindende „Geschichte“ hat. Diese Geschichte erzeugt einen Mythos über das Geschehen, der in die Zukunft transportierbar und auf die Vergangenheit in der Absicht einer kontrollierten Beschreibung übertragbar ist. Die Funktionsweise der Astrologie mit ihrer Referenz zu Sonnen- Mond- und Planetenläufen, die unsere kalendarische Zeit bestimmen, liegt weniger in der „objektivierbaren“ Messung von Planeten-Konstellationen, sondern in der vagen Beschreibung von universalisierten Rhythmen. […Die historische Datierung mittels des Kalenders hat über die konkrete Funktion der Feststellung von Referenzzeit (konkreten Vergleichsmaßstäben) hinaus ihre Bedeutung darin, die menschliche Zeit zu kosmologisieren, indem sie die kosmische Zeit humanisiert…][2]

 

Die Mythen sind immer hier und jetzt, sie sind zeitlich nicht zu verordnen und unterwandern unser Verlangen nach zeitlicher Ordnung und Kategorisierung.  Kalendarisch gibt es keine Gegenwart, jeder Zeitpunkt ist vorbei in dem Moment, in dem ich ihn festzuhalten versuche oder auf der Skala zwischen gestern und morgen erfasse. Die Gegenwart des Denkens ist immer ein Konstrukt einer nachträglichen Betrachtung unseres Handelns. Sprache vermittelt zwischen Unmittelbarkeit des direkten Erlebens und Vorstellungen des Denkens, sie beschreibt nie das, was ist, sondern dass, was sein könnte, wenn wir uns auf den Gedanken einlassen. Vergangenheit wird vor allem spürbar im Entwerfen einer gemeinsamen Zukunft und den Anforderungen an eine gemeinsame Welt. Zeit ist immer auch mit dem Erleben von Gemeinschaft verbunden, sie existiert nicht unabhängig von der Bedeutung der Epochen und ihren speziellen „Einweihungswegen“, Geschichten und Bildern.

 

Das Interessante ist, dass Mythen, Fabeln, Gleichnisse und allegorische Erzählungen oft entweder einen Anfang und kein Ende haben, oder umgekehrt ein Ende, aber keinen Anfang. In jedem Fall besitzen sie eine dramatische Mitte, in der nach Aristoteles zwangsläufig eine Wendung der Geschichte eintritt. Das Ende ist in den Erzählungen frei variierbar, die keine historische „Wahrheit“ beschreiben wollen. Hollywood dreht mehrere Enden, um sich das schönste dann auszusuchen. Anfang und Ende ergeben sich aus der Mitte der Erzählung in immer neuer Form.  An der Abzweigung fängt jeweils der Mythos an. Das Problem einer „adäquaten Geschichtsbeschreibung“ von „realen Begebenheiten“ ist, dass wir nicht aus diesem Kontext von Anfang und Ende ausbrechen können.

 

Es existieren immer mehrere Versionen der „offiziellen Geschichte“. Dies gilt auch für unsere Selbstbeschreibung. Wir brauchen die Vorstellung immer neuer Anfänge und Enden, um unsere Biographie den Notwendigkeiten der Zeitbeschreibung anzupassen. Die „Grenzerfahrung“ ist ein Augenblick, in dem tiefere Erkenntnisse über die Welt einfließen, auch wenn sie aus der Raumgestaltung des JETZT heraustreten müssen. Der zentrale Kern unserer Biographie liegt fest, Anfang und Ende bleiben variierbar. Astrologie beschreibt diese Variationen um den Kern herum. Das Horoskop ist keine Darstellung unseres „Charakterkerns“ oder „genetischen Disposition“, sondern eine Darstellung der möglichen Verlaufsformen eines fiktiv gewählten Kerns, an dessen Bild wir uns über die Verläufe orientieren können.

 

Mythen versuchen, diese Fiktion einzufangen, sie spielen auf verhüllte Weise mit „Realitätskernen“. Viele Versionen kursieren jeweils um die „eine Wahrheit“. Indem Geschichten wieder und wieder in anderer Weise erzählt werden, bekommen sie automatisch einen „kreativ ausgestaltbaren Teil“. Das Reich der Hethiter begann irgendwo und endete irgendwann, man weiß nur, dass es in der „Blüte seiner Zeit“ ein Reich mit ebenso großem Einfluss wie die damals beherrschenden Reiche Ägypten und Babylon gewesen sein muss, danach aber im Gegensatz zu den beiden anderen verschwand. Dies suggeriert die Wichtigkeit der Epoche mit allen drei Völkern, unabhängig davon, ob es sie überhaupt gab, ob ein Volk „untergegangen ist“ oder ob es noch andere Völker gab, die relevant waren. Die Geschichte der Hethiter verweist automatisch auf die Epoche des „sichtbaren“ Ägyptens und Babylons und erfüllt darin ihren Zweck, sei sie ein Mythos oder nachweisbare Realität. Je nachdem, welchen Anteil an der Geschichte ich erzählen möchte, ist entweder der Anfang oder das Ende wichtiger, je nachdem, ob die Details, die ich für meine Beschreibung benötige, im Vorher oder im Nachher begründet sind. Mit jeder Erzählung wird Zeit also zugleich konstruiert und in eine „Ordnung“ gebracht, die wiederum erklärungsbedürftig ist. Die Geschichte erzählt sich immer auch selbst.

 

Zeitliche Bestimmungen sind immer dialektisch. Zufälligkeiten, Anspielungen und etwaige Übereinstimmungen sind gewollt und oft metaphorisch in ihrem lexikalischen Verweis auf eine zu schaffende Dauer im Chaos des Alltags gemeint. Begriffe, die sich von der Anschauung von Raum und Zeit ableiten, wie Leistung, Arbeit, Entwicklung sind geprägt vom subjektiven Erleben der Zeit und dem Sinn, dem wir der Zeit beimessen. Sie verweisen auf einen strukturierten Kontext, der Sprecher und Hörer gut vertraut ist und eine „Geschichte“ generiert, die Vertrauen und Bekanntheit schafft. Die „wirkliche Leistung“ ist davon abhängig, wie „wir uns verkaufen“. Zeitliche Verortungen weisen auf das Besondere im Allgemeinen hin, die „Entwicklung“ zwischen Sein und Nichts, zwischen Qualität und Quantität, zwischen Identität und Unterscheidung ohne zu bemerken, dass es nichts gibt, dass sich nicht entwickelt. Wir können nur das wahrnehmen, was sich verändert.

 

Das Besondere kann mit Schelling und Hegel immer sowohl auf das Ganze, als auch auf das Einzelne bezogen werden. Eine „Spanne“ ist z. B. ein Raummaß mit zeitlichen Qualitäten. „Über eine gewisse „Zeitspanne“ ist dies und jenes passiert und nun ist es Zeit für etwas Anderes. Es ist für Jeden etwas anderes und doch für alle auch gleich. Das Besondere ergibt sich aus der konkreten Bezeichnung, dem subjektiven Urteil der im gewählten Begriff liegenden Bedeutung und ihrem subjektiven Bezug. Ob eine Spanne lang war oder kurz, kann nur aus dem Kontextbezug zum Einzelnen und Ganzen erschlossen werden.

 

Für eine objektive Betrachtung astrologischer Technik sollten zunächst die Zeitbezüge innerhalb ihrer speziellen Matrizen geklärt werden. Die Astrologie ist eine historisch umfassende Beschreibung von Zuständen und Perioden sozialer Zeitstrukturen. Die Art, wie durch astrologische Analyse Zeit konstruiert wird, gibt die Art und Weise vor, Zeit- und Deutungssprünge zu verarbeiten. Der Tierkreis ist einerseits zyklisch geschlossen, andererseits in Gegensatzpaare von aktiven und passiven Zeichen geteilt. Dazwischen vermitteln Paarbildungen von scheinbaren Gegensätzen, die nach einer Einheit verlangen, wie etwa die Elemente Feuer und Wasser, oder die komplementären Gegenüberstellungen von Sonne und Mond, Venus und Mars sowie Jupiter und Saturn (Symbole verkehrt). Im Gegensatz sind Zyklus und Sein vereint, da sie eine Entwicklung vorgeben (bspw. Wachstum, Jupiter vs Konzentration, Saturn).

 

Die einfachste Form dieser „Übertragung von Kontrasten“ ist der Wechsel von Tag und Nacht, der auf einer anderen Ebene als Winter und Sommer gedeutet wird. So erscheint in den Versen der Dichter von Laotse über Konfuzius, Heraklit oder Anaximandros die „Relativität“ aller Erscheinung, der Ausgleich der Gegensätze durch die menschliche Leistung, den Gegensatz auf eine andere Ebene zu heben und durch Entwicklung greifbar zu machen. Durch die Abbildtheorie Platons wurde dieser Zeitbegriff modifiziert und in einen Zusammenhang zu dem Unterschied des Subjektiven des Erkennens und der objektiven Erkanntheit gebracht und Zeit als etwas abhängig vom Beobachter Definiertes gesehen. Plato wies darauf hin, dass die zu seiner Zeit aufkommenden Wissenschaften zwar eine Objektivität der Beschreibungen anstrebten, selbst aber immer abhängig von „Ideen“, variabel belegbaren Grundkategorien abhängig sind. Folgerichtig sind auch die periodischen Bewegungen am Himmel, mögen sie noch so „physikalisch genau“ sein, im subjektiven Alltag beliebig umwandelbare und gruppierbare Analogien, die der Mensch über die Jahrtausende in seine Kultur integriert und spezifiziert hat.

 

Sobald etwas zeitlich vorgestellt wird als etwas Werdendes, sich Entwickelndes ruft es die Frage der Verursachung auf. Doch alle Wirkungen von Ursachen sind wiederum Ursachen neuer Wirkungen, die sich aus der ursprünglichen Ursache nur noch rekonstruieren lassen und niemals das authentische, „erste Bild“ liefern können. Transite und Progressionen in der Astrologie fordern automatisch die Begründung von Ursachen heraus und die Frage nach dem Beginn des Zyklus, bzw. der Ursache des Abbildes. Warum deuten wir einen Saturntransit auf die Weise wie wir es tun? Welche historischen Erfahrungen befähigen uns dazu, diese Interpretation für authentisch zu halten? Was machen wir mit dem Zweifel, dass an einem Punkt der Geschichte ein Interpretationswechsel vorgenommen wurde und die Wirklichkeit genau konträr aussieht? Diese Fragen begleiten jede Erfahrung, die sich in der Zeit vergleicht und nicht authentisch aus dem Augenblick erfolgt, jede Konstruktion von Gesellschaft und Gemeinschaft.

 

Die Wahrnehmung des Menschen wird von seiner Umwelt geprägt; bin ich mit einem anderen Menschen zusammen, dann nehme ich auch andere Dinge wahr und denke andere Gedanken. Wirklichkeit besteht also immer nur im Hinblick auf die von einem bestimmten Menschen veränderte Wahrnehmung und die Möglichkeit der Rückfrage, ob eine gemeinsame Sichtweise möglich ist. Im Gedächtnis bleiben folgerichtig vor allem jene Wahrnehmungen, die etwas verändert haben (bzw. Menschen, die diese Änderung bewirkt haben) - Menschen, die eine Differenz in unserer gewohnten Betrachtungsweise hervorgebracht haben und damit den Gegenstand überhaupt erst wahrnehmbar gemacht haben.

 

Wer die „schöne Illusion der Zeit“ stört, ist in Gefahr zum Außenseiter zu werden, weil er den „Zeitgeist“ verpasst. Das ist das Grunddilemma aller Bestimmung. […Der Augenblick eigentlicher Zeitlichkeit ist also der Ursprung des Verhaltens zu Geschichte. Im Augenblick fasst sich die Existenz in allen ihren Möglichkeiten zusammen: Sie bereitet vor auf den Tod als die äußerste Möglichkeit ihres Seins und nimmt darin ihre tödliche Endlichkeit als die eigene an. In diesem Ernst aber nimmt sie gerade Geschichte als ihre eigene und flieht nicht in Unverbindlichkeit. Sie anerkennt, dass sie durch Vergangenheit und Geschichte jetzt und hier qualifiziert ist. Nur so kann sie sich durch Geschichte wirklich betreffen lassen…][3]

 

Die Zeit negiert nach Heidegger das Sein. Zeit ist für ihn alles, was das Sein der Gegenwart nicht ist, weil die Gegenwart nicht zur Konstruktion der Zeit gehört. Denken allgemein und die Philosophie entspringen für Heidegger aus dem alltäglichen Dasein. […Doch sobald sie einmal entsprungen ist, bleibt sie von ihrem Ursprung dadurch radikal getrennt, dass sie wesentlich nicht der Handlungsperspektive des alltäglichen Daseins unterliegt, sondere diese in ihrer Bewegtheit begreift….][4]. Für Heidegger geht es um das Sein überhaupt, das hinter dem Dasein existiert und um dahin zu kommen, muss man sich auf den eigentümlichen Aufbau des Phänomens der Zeit und seiner paradoxen Beschreibungen einlassen, die sich für Heidegger in den „drei Ekstasen“ der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede zeigen, die die Erschlossenheit der Welt ausmachen. […Ihre Er-Schließbarkeit führt zur Ent-Schlossenheit, weil sie in ihrer Wiederholung das Zurückholen der Erschließung garantieren. Das ist aber nicht ganz so simpel. „Diese Erfahrung ist keineswegs immer ausdrücklich, sofern wie „da“ sind, sind wir zwar Erschlossenheit, aber nicht derart, dass wir einfach nur Erschlossenheit sind. Vielmehr tragen wir unser Sein und damit die Erschlossenheit aus, indem wir sie nicht wahrhaben wollen. Wir sind in der Bewegtheit des Daseins bestrebt, die Erschlossenheit zu verschließen (…). Das Verschließen der Erschlossenheit besteht darin, möglichst unbestimmt sein zu wollen und dabei allerdings die eigene Unbestimmtheit immer nur bestätigen zu können…][5]

 

Hier vollzieht sich für Heidegger das „Gerede“ des Alltags, die Herrschaft des „Man“, die Tendenz der Profilierung oder Anpassung an das momentan schwer hinterfragbare, um nicht dem sozialen Aus zu verfallen, das Heidegger als das „Vorlaufen zum Tode“ bezeichnet. […Die Befindlichkeit der Angst ist für Heidegger eine ganz wesentliche Erfahrung für die Bestimmung des Seins, weil sie das Selbstverständliche anzweifelt. In dieser Unsicherheit erscheint das Sein klar im Unterschied zu der „selbstherrlichen Vergewisserung“. Die eigentliche Erfahrung wird nach Heidegger dann gemacht, wenn das Bevorstehende sich der Vorstellung in besonderem Maße entzieht. „Die Verschlossenheit des Verfalles besteht darin, sie im Gerede einer Bestimmtheit versichern zu wollen, die die Unbestimmtheit des Daseins vergessen machen soll…][6]

Astrologisch gesprochen konstruieren wir unsere Wirklichkeit durch „planetare Satzbausteine“, die eine sichere Wirklichkeit gerade vorgeben, wo in Wirklichkeit Unsicherheit bezüglich der Lebenssituation besteht. Indem sie Sätze nach bestimmten von der Konstellation der Planeten abhängigen Regeln konstruiert, bildet Astrologie die von Heidegger angesprochene Dynamik ab und führt die im Alltagsgerede liegende Widersprüchlichkeit und Unbestimmtheit der Rede, die gerade aus dem Bemühen um das „Vernünftigsein“ entsteht, ad absurdum. Das scheinbar Unumstößliche wird in der astrologischen Deutung zum Ungewissen (bin ich wirklich ein Löwe?) und das Ungewisse zur Erkenntnis (ich habe mich immer wieder gefragt, warum so viele Menschen in mir einen Fisch sehen und mich in dieser Frage wiedergefunden).

 

Die „Verschreibung von „psychologischen“ Eigenschaften“ erzeugt einen Widerspruch, da ein Mensch nicht auf „Eigenschaften“ reduzierbar ist. In der Verhandlung über die „wahre Beschreibung“ wird immer auch der Anspruch hinterfragt, der hinter der Beschreibung steht. In diesem dialogischen Prozess erscheinen die Regeln, nach denen wir unsere Welt beobachten und damit auch das Phänomen der Zeit, denn Zeit entsteht durch die Unterscheidung zwischen eigener Erfahrung und dem Anspruch aus den Theorien, wie die Wirklichkeit zu sein hätte. Wenn es so etwas wie eine „direkte Anschauung“ der Dinge außerhalb der Zeit gäbe, dann würde diese nicht kommunizierbar sein. Ich „bin“ kein Löwe, sondern die Sonne stand zum Zeitpunkt meiner Geburt in einem bestimmten Abschnitt, der längst Vergangenheit bei der Betrachtung ist und nur durch eine mathematische Konstante zusammengehalten wird.

Mit dem Empfinden von Zeit entsteht Spannung. Zeit ist etwas, was innerhalb gesellschaftlich normierter Vorgaben stattfindet in ihren Unterscheidungen von alt und neu, gut und schlecht, schön und hässlich usw. War etwas besser als etwas anderes? Wird etwas wertvoller sein, wenn ich anders handle? Sobald wir an Zeit denken, sind wir in der Dualität der Erscheinungen. Zeit ist nicht, sie entsteht aus der kulturell bedingten Planungsnotwendigkeit, der Einigung auf das Bald und seine Konkretisierung in Form einer Zeitangabe. Wer an diesem Spiel nicht teilnimmt, braucht auch keinen Begriff von Zeit – er lebt ganz einfach. Zeitempfinden entsteht aus dem Versuch, einer zunehmend durchorganisierten Welt etwas Spontanes abzuringen und in den Mythen und Geschichten nicht nur einen Trost zu finden, sondern auch Handlungsalternativen angesichts der Ohnmacht in restriktiven Systemen, Wunsch nach Spontanität, nach authentischem Miteinander, nach Glück und Wohlergehen. Daher auch die Unterscheidung der Griechen in Chronos (pünktlich, ordentlich) und Chiros (rechtzeitig, kreativ). Das Spontane kann innerhalb von Systemzwängen nur innerhalb eine zeitlichen Ordnung als solches wahrgenommen und gewürdigt werden. Außerhalb davon gibt es keine Spontanität, keine Authentizität und kein „besonderen Momente.“

 

Je größer und dichter die Menschenräume werden, je stabiler die Gewaltmonopole werden, je ausdifferenzierter die gesellschaftlichen Funktionen, […desto mehr ist der Einzelne in seiner sozialen Existenz bedroht, der spontanen Wallungen und Leidenschaften nachgibt; desto mehr ist derjenige gesellschaftlich im Vorteil, der seine Affekte zu dämpfen vermag, und desto stärker wird jeder Einzelne auch von klein auf dazu gedrängt, die Wirkung seiner Handlungen oder die Wirkung der Handlungen von Anderen über eine ganze Reihe von Kettengliedern hinweg zu bedenken…][7] Wenn die Astrologie also eine zeitliche Ordnung für die Angelegenheiten des Lebens konstruiert, dann nicht, um dieser Zeit eine objektive Geltung zu geben, sondern um überhaupt einen Raum für Spontanes zu schaffen. „Gute Zeiten“ und „schlechte Zeiten“ sind Bilder für die scheinbare Unumstößlichkeit manches Schicksalsschlags. Sie ergeben sich nach derselben Logik, nach der wir die Ereignisse in logisch und unlogisch, wahr und falsch oder wirklich und unwirklich teilen. Ob Weihnachten gut oder böse ist, hängt von den gemachten Erfahrungen mit Religion, mit Familiendramen und der eigenen Fähigkeit zur Distanzierung zusammen (Saturn steht als Regent des Zeichen Steinbock, das mit Weihnachten beginnt).

 

In seinen Untersuchungen über das höfische Mittelalter stellt Norbert Elias fest, dass die zunehmende Zentralisierung und Differenzierung zu einer erhöhten Selbstkontrolle des Individuums führt und damit auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Schamschwellen und Erklärungsversuche über die Welt. Mehr Handlungen sind angstbesetzt, wobei gleichzeitig die Notwendigkeit wächst, die Handlungsmotive anderer Menschen rational nachzuvollziehen und vorauszuberechnen. Der gesellschaftliche Zeitbegriff ist wesentlich abhängig von dem Phänomen des Planens. Um die Synchronisation der Abläufe zu gewährleisten braucht es soziale Einigung auf die Prozessabläufe. Die gedankliche Vorwegnahme einer Handlung innerhalb der moralischen Ansprüche ist immer mehr von den komplexen Gegebenheiten abhängig.[8] […Ausgehend von den höfischen Klassen, deren Strukturierung und Verhaltensnormen sich zunehmend über den „neuen Adel“ bis hin zu der aufstrebenden Mittelschicht durchsetzt, entwickelten sich die Zeitbegriffe nach dem Schema der Produktivität und einem Ablauf von Substanzbezügen, die durch Arbeitsteilung und feste Produktionszeiten synchronisiert wurden mit den Feierabendaktivitäten und offiziellen Festivitäten. Der Zeitbegriff steht in Analogie zu den Gegebenheiten einer zunehmend von der Natur entfernten und dem Produktionsprozess unterworfenen Menschheit, die sich in kulturellen Schüben auf- und niederbewegt und damit in ihrer Analogie und Metaphorik selbst zur Vorgabe für ihre Bewegung wird…][9]

Ideologische und „technische“ Zeitbezüge wirken ineinander. Jede Zeit hat ihren Mythos, jede Leistung ihre „Bestimmung“, die in Widerspruch zu einer anderen Zeit steht. Die Astrologie in ihrer Anlehnung an Analogien, deren Ursprung mythologisch bestimmt ist, beschreibt solche Zeitphasen und Lebensrhythmen in einer metaphorischen Art, einer Synthese von Leistungsbegriff und Mythos, wie dies auch in epischen Formen spannungsaufbauender Paradoxa geschieht. Der Astrologe hat so viele Zeiten wie er Planeten hat, eine Zeit zum Handeln für Mars, eine Zeit zum „Insichgehen“ für Neptun und eine Zeit der Ordnung für Saturn, eine Zeit der Muse (Venus), eine Zeit des Glücks (Jupiter), eine Zeit des Chaos (Uranus) usw.  Dazu hat er technische Skalen, auf denen er die einzelnen Zeit-Empfindungen historisch miteinander verwoben sieht. Mars im 8. Haus bedeutet nicht mehr nur einen gewaltsamen Tod (man beachte hier den Mythos des Todes im Bezug auf die Aussage zu den zeitlichen Ursachen, die zu ihm führen), sondern er steht individualisiert für ein explosives Gefühlsleben, für das es „eine Zeit“ braucht (oder „einen Raum?“).

 

Doch diese Erfahrungen sind immer schon personifizierte und damit an den jeweiligen Zeitgeist gebundene. Venus in Trigon zu Jupiter bringt nicht dann nicht nur Reichtum, sondern auch ein persönliches Empfinden für ästhetische Werte im Wettbewerb. Um diese Eigenschaften feststellen zu können, ist ein entsprechend idealisiertes Gegenüber notwendig. Die Wertungen scheinen zwar individueller ausdifferenzierter als im Mittelalter, sind aber in Wirklichkeit genauso einem Verhaltenscodex des entsprechenden Milieus unterworfen. Das erhöhte Schamempfinden (Venus) führt zu einer Höherbewertung sensibler Eigenschaften, aber auch zu größeren Schuldgefühlen gegenüber Aggressionen (Mars). Die grundlegenden Bedeutungen der Planeten wandeln sich nicht, da sie im Gesamtplan ihre Rolle behalten. Was sich ändert, ist ihr Verhältnis zueinander und das macht auch für uns eine Änderungen unseres Habitus notwendig, wenn wir den entsprechenden institutionellen Anforderungen der Zeit genügen wollen.

Deutungen in die Zukunft sind im logischen Sinne immer richtig und falsch zugleich, da das Horoskop ein zweites Sein, einen fiktiven Anfang konstruiert, dem sich alle weiteren Beurteilungen anzuschließen haben. Der Sprung vom Stundenhoroskop zum Geburtshoroskop entspricht dem, was die Hermeneutiker die zweite Reflexion, das zweite Sein nennen. Es wird ein willkürlicher Anfang einer Geschichte gesetzt (andere Anfänge wie die Zeugung, der „Seeleneingang“, das erste Wort usw.) wären genauso denkbar und aus diesem Anfang leiten sich alle weiteren Abläufe (Transite, Progressionen, Solare etc.) ab.[10] Es gibt keine Entscheidung zwischen Stundenastrologie und „psychologischer Astrologie. Beide ahmen den Tanz des Verstandes zwischen Hinterherjagen der Aktualität und Rekonstruktion der eigenen Geschichte nach und bedingen sich gegenseitig, indem sie wahlweise vorgeben oder nacherzählen, was sich nicht begrenzen lässt. Ein Saturn beispielsweise ist für beide gleichermaßen gut und schlecht und gleichzeitig auch neutral. Denn es ist ja nicht der Saturn, sondern die Eigenschaft der Zeit, die er symbolisiert, wie sie im Menschen erscheint und  Ordnung in die Vielfalt der Wahrnehmungen bringt.  

 

 

Zeitrhythmen und konstruierte Gegensätze

 

Astrologie bildet seit Jahrtausenden mit den Kategorien der Mythen und Allegorien den Mechanismus der Zeit- und Kalenderkonstruktion ab. Ihr Entwurf der Zeit ist der gesellschaftlich verbindende, von Kultur zu Kultur variierend und individuell ausgestaltbar. Damit schafft sie eine Realität, ohne dass die Sterne zwingend einen zusätzlichen Einfluss ausüben müssen. Es wäre auch mehr als frevelhaft, von einem Weltbild auszugehen, dass menschliches Verhalten und soziale Zusammenhänge von einer „äußeren Wahrheit“ ableitet, nachdem wir das dunkle Zeitalter der bestrafenden Religionen überwunden haben. 

Die astrologischen Bilder nehmen bis in unsere heutige Zeit Einfluss auf den kosmologischen, ontologischen und anthropomorphen Hintergrund, sie haben die Zeit selbst in ihrer vielfältigen Variation als Thema, in Chronos/Saturn als die regelmäßige Kalenderzeit, in Chiron ist die Silbe  Kairos enthalten, den magischen Moment der Veränderung und in Ananke (Mondknoten) dem Schicksal und Zufall. Jede Zeit hat eine Färbung, einen Erlebnishintergrund. Astrologische Zeitaussagen können beispielsweise sein: Als König Barbarossa 1167 gegen den Lombardenbund verlor, standen Jupiter und Saturn in Konjunktion im Wassermann; das kommunistische Manifest wurde mit Uranus und Pluto in Widder 1848 verabschiedet, die Erfindung vom Film wurde durch Pluto im Zwilling begleitet; die erste Wasserstoffbombe wurde mit Merkur auf 29°29‘29‘‘ in Skorpion gezündet, der Sonntag nach Vollmond ist Ostern usw.

Die Konstellationen sind Teil eines Schicksalsbilds, das den Wunsch nach Sinndeutung und Haltepunkten in einer chaotischen Welt selbst erfüllt.  Die  kalendarische Zeit des Jahres- Monats- und Tageslaufes wurde vor mindestens 10.000 Jahren als  Referenzsystem zur subjektiv erlebten „mythischen Zeit“ eingeführt.[11] Trotz aller Messungenauigkeit und beliebig erscheinenden Ordnungsmuster sind die Bilder der kalendarischen Referenzzeit universell übertragbar und quer durch alle Kulturen in realem, astrologisch-deutenden historischen Kontext eingebunden.

 

Mit der „Zählung der Zeit“, des Messens periodisch wiederkehrender Naturerscheinungen tritt aber auch das Numinose auf den Plan, das unbeherrschbare Chaos und die Beliebigkeit und Sinnlosigkeit dessen, was nicht im „Schicksalsplan“ vorhergesehen ist. In Person der Moiren oder „Schicksalsgöttinnen“, die an dem persönlichen „gerechten Schicksal“ weben;  im Sinne des indischen Karmagedankens oder der römischen Ananke, die jeglichen logischen Erklärungsansätzen trotzen, finden wir den notwendigen Gegenpol zu „menschengemachter Ordnung“ und den Versuch, dem „göttlichen Plan“ auf die Finger zu schauen. Hier lässt sich eine frühe Form der Gesellschaftskritik an „Sternen-Glauben“ und „kosmischer Religion“ erahnen, die den Menschen unter die Ordnung der planetarischen Götterwelt zwängen will und ein Weltbild aus der Beherrschung der Beobachtung der Natur zimmern. Die regelmäßige Wiederkehr der Erscheinungen am Himmel eignet sich dazu besonders gut, da sie ein technisches „Wissen“ suggeriert gepaart mit psychologischen Kunststücken der Rhetorik.[12] Astrologie rührt am Glauben des Menschen, weil sie seine gewohnten Überzeugungsmuster durcheinander bringt und das Selbstverständlich erscheinende in Frage stellt.

Die Wirklichkeit ist immer komplexer als ihre Beschreibung. Die scheinbare „Wirkung“ der Sterne und Planeten besteht für die Astrologie nicht darin, dass sie Zeitmaße vorgeben, nach denen wir uns verhalten. Es ist eher umgekehrt: Die Beschreibungen ändern sich mit dem Versuch, sich dem gesellschaftlichen Duktus anzupassen.[13] Dabei konstruieren sie die Gegensätze nach, die das Erreichen der gewünschten Verhaltensnormen zumindest dialektisch ermöglichen. Der kategorialen Zeitqualität des „Wachstums“ von Jupiters steht die Phase der Stagnation Saturns gegenüber, der aggressiven Aktivität Mars, die liebevolle Annahme der Venus (Zeit für die „inneren Werte“), der Autonomie des Uranus die der Gemeinschaft des Neptun, der Selbstreflexion der Sonne die Gefühle des Mondes, der Aktualität des Merkur die „mythischen Schatten“ des Pluto und der Analyse des Chiron die Synthese von Lilith im Sinne einer ganzheitlichen Emanzipation. Sechs konträre „Zeitpaare“ machen uns Vorschläge, wie wir die Ereignisse zueinander gruppieren und ins Verhältnis bringen. Es geht so in der Astrologie um die Handhabung ineinander wirkender Zeitqualitäten und nicht um die kausale 1:1-Zuordnung von Ereignissen zu einer „kosmischen Absolutzeit“.

 

Der Lauf der Gestirne am Himmel bietet sich technisch allerdings für die nähere Zeit-Bestimmung an. War es in Stammesgesellschaften vor allem der Mond, der den Rhythmus des Lebens bestimmt (Licht, Pflanzenzyklen usw.), sind es in den zunehmend organisierten Stadtstaaten Mesopotamiens die Bewegungen der Planeten, die das Zeitempfinden ordnen, weil sie sich unabhängig von dem Geschehen auf der Erde sehr regelmäßig bewegen  und eine „unabhängige Geschichtsschreibung“ möglich machen. Aus den zeitlichen Konstrukten periodischer Planetenläufe wurde das persönliche Horoskop. Auch wenn seine Abbildung nur eine konstruierte ist, die eher in Analogien zum Geschehen auf der Erde (Tages- und Jahreszeiten) arbeiten, als in realen Entsprechungen, entsteht ein Zusammenhang aus der Symbolik des Himmels und dem Geschehen auf der Erde.

 

Dabei entsteht ein Problem. Erzählte Geschichte bewegt sich in Zyklen, jedes Ziel ist ein in den Zyklus hineingedeuteter Bestandteil der Weiterbewegung. Die Beschreibung der Zeit nährt immer auch einen Mythos um ihre Symbolik. In diesem ist sie für das System selbst nicht greifbar, d. h. das System hat in der Erfassung seiner Referenzzeit selbst einen blinden Fleck. Was sie prognostiziert ist immer Teil einer von ihr selbst konstruierten Geschichte. Das ist auch der Grund, warum Astrologie keine „Voraussagen“ im Sinne konkreter Ereignisse treffen kann. Sie beschreibt in Anlehnung an die von ihr selbst reproduzierten Geschichten das, was für das System selbst unsichtbar bleibt und hilft den Mythos der Zeit, den „Zeitgeist“ zu verfestigen, der immer schon ein vor-gestellter ist. Das Ereignis erscheint dann logisch in sinnvoller Ableitung, aber diese Logik beruht darauf, dass alle anderen möglichen Vorstellungen ausgeblendet worden sind. Wenn ich vorhersage, dass es 2020 zur Umwälzung in Richtung Basisdemokratie kommt, dann bleiben mit dieser Voraussage alle anderen Möglichkeiten der sprachlichen Beschreibung des Wortes Demokratie unberücksichtigt, die dann aber eine andere sein wird. Und wenn in Amerika dann Anarchie ausbricht, dann kann ich das immer noch als Basisdemokratie interpretieren.

 

Astrologie untersucht Gesellschaft und die Funktionen und Rollen des Menschen in dieser. Sie hilft, Lebensmodelle zu entwickeln und den Menschen ein sinnvolles Bild in einer lebenswerten Zukunft zu vermitteln. Dabei entwirft sie die Vorstellung einer an der physikalischen Realität der Sterne ausgerichteten Zeit, die den Menschen in gewisser Weise determiniert. Doch Zeit ist vor allem etwas, was durch das soziale Zusammenleben geprägt ist und von Empfindungen und Bedürfnissen abhängig ist, wie der Philosoph Henry Bergson Anfang des 20. Jahrhunderts feststellte. Unser scheinbar spontanes Erleben ist von Erwartungen und selbsterfüllenden Prophezeiungen geprägt. Wenn wir morgens auf die Arbeit gehen, sind wie in einer Stimmung der Produktivität, wenn wir abends feiern, dann sind wir in einer Stimmung der Ausgelassenheit. Zeit erscheint somit nicht nur als ein Ordnungsmerkmal für rein technische Abläufe, sondern auch für die Vorgabe sozialer Verhaltensweisen.

 

Wenn Pitirim Sorokin[14] die Gesellschaften klassifiziert, dann sprechen daraus augenscheinlich Strukturen des „Zeitgeists“ und historisch wiederkehrende Perioden. Er teilt „kulturelle Mentalität“ auf in: […1. "ideational" (streng moralisch ausgerichtet auf spirituelle, jenseitige Wahrheitsquellen), 2. "sensat" (ausgerichtet auf das Diesseitig-Sinnliche als Wahrheitsquelle [Glücksstreben, Empirie]) oder 3. "idealistisch" (eine Synthese von beiden), wobei die verschiedenen Gesellschaftstypen wie nummeriert zyklisch aufeinander folgen und die 3. Phase als Dekadenz erscheint. Er deutete den zeitgenössischen Westen als "sensate" Zivilisation, die dem wirtschaftlich-technologischen Fortschritt gewidmet ist, und prophezeite ihren Verfall sowie die Entstehung einer neue ideellen oder idealistischen Ära…][15] Was „in der Zeit“ geschieht, sei es der spirituell ausgerichteten oder vernünftigen kann nicht mehr außerhalb stattfinden, es wird zur Synthese gezwungen mit all ihren Unklarheiten. Die Definition von Zeit führt in Widersprüche, die immer neue Definitionen und Festlegungen notwendig machen.

 

Systemtheorie und Astrologie

 

Ein Ereignis ist nach der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann immer eine irreversibles; es existiert weder aufgrund vergangener Strukturen noch aufgrund vorhersehbarer Methodik, sondern weil es für uns da ist und wir ihm Bedeutung geben. Die Zukunft ist für das System grundsätzlich offen und unvorhersehbar, es kann nur Rückschlüsse auf sich selbst ziehen, indem es die Anwendung seiner Operationen beobachtet und andere dabei beobachtet, wie sie ihre Operationen beobachten. […Es sollen bloße Beschreibungen decouviert werden, die dann sehen können, dass sie nicht schlicht wiedergeben, was der Fall ist oder doch sein sollte…][16] Das System kann nicht sehen, was es nicht sehen kann, es kann nur aufgrund der ihm bekannten Handlungsstrategien erkennen, dass es etwas nicht bemerkt hat. Daher ist jeder Prozess der Beobachtung immer auch ein Hinweis für andere Systeme, dahin zu gucken, wo der andere nicht hinsieht.

 

Je irrationaler die Beschreibungen der Welt, desto größer wird der Wunsch nach Rationalität und Vernunft. In diesem Sinne sind Mythen auch als „paradoxe Interventionen“ deutbar. Denn in ihrer Verschreibung des Unmöglichen halten sie das Verlangen nach konkreter Änderung wach, wo „vernünftig sein“ aus diversen Gründen nicht möglich ist.  Die Betonung der Vernunft wird in totalitären Systemen eine Wertung, die unbewusst Vorurteile transportiert und keine „universelle Wahrheit“ oder ein Wert zulässt, den wir diskutieren können, ohne in selbstreferentieller Weise auf die eigene Verrückt-heit Bezug zu nehmen.[17] Jeder nüchternste Sachverhalt könnte immer auch anders beschrieben werden (und damit andere Bilder heraufbeschwören). In sozialen Konfliktsituationen ist es entscheidend, den Sachverhalt aus dem Machtdiskurs der scheinbaren „Vernunft“ herauszulösen und in die Hände der Beteiligten selbst zurückzugeben. Zum potentiellen Gewalttäter, Mobber und „Unsensiblen“ wird man dann gemacht, wenn man sich in den entsprechenden Kreisen bewegt. Um zu dem eigentlichen Kern der Bedeutung zu stoßen, muss man die Ebenen wechseln und das System verlassen. Ein System, dass auf seiner Vernunft als einzige Wahrheit beharrt, führt in die Schizophrenie.

 

Für die Astrologie kommt etwas Spezielles hinzu: Ihre Symbole, Mythen, Metaphern, Analogien entsprechen durch ihren historischen Gebrauch alltagssprachlichen Ausdrücken, die sie reproduziert. Es ist für sie systembedingt unmöglich zu entscheiden, was wirklich Ereignis und was eine Reflexion auf etwas bereits Interpretiertes ist. Der Zeitbezug, auf den die Beschreibung des Ereignisses zielt, ist bereits vorher astrologisch gedeutet, ohne dass dies bewusst wäre. „Krisenzeiten“ haben bereits eine „uranisch/saturnale“ Prägung, „erhellende Momente“ etwas Merkurisches oder Neptunisches, „Aktionsreichtum“ etwas Marsianisches usw.  Unsere Erwartungen werden darin bestätigt, ob wir zum Himmel schauen oder nicht. Dieser Effekt führt dann zum Glauben, dass etwas „vorhergesehen“ ist.

 

Dass es auch Krisen ohne Saturn/Uranus/Pluto gibt und aktionsreiche Zeiten ohne Mars fällt nur dann auf, wenn eine „andere, spezielle Theorie“ die allgemeine ersetzt, wenn etwa die Krise eine spirituelle ist oder der erhellende Moment etwas Chironisches hat. Die Annahme zeitlicher Strukturen in ihrer „Ereignishaftigkeit" wird im historischen Prozess der astrologisch-kosmologisch-mythischer Beschreibung reproduziert, wieder und wieder, auch wenn es nicht explizit astrologische Deutungen sind. „Geschichtliche“ Ereignisse, deren Wirklichkeitscharakter objektiv beschreibbar wäre, existieren für die Astrologie im Sinne ihrer Referenz zu einer „absoluten Zeit“ nicht – jedes Ereignis ist für sie einmalig, da sie ansonsten nur beschreibt, was nach der von ihr selbst konstruierten Geschichte zu erwarten wäre. Was sie sucht, sind Abweichungen und Überraschungen, die Hinweise auf Fehler des „gewohnten Denkens“ geben.

 

Damit hat sie Ähnlichkeit mit der soziologischen System-Theorie von Luhmann. Dort gibt es auch keine singulären Ursachen und Ereignisse der Historie, aufgrund derer etwas notwendig geschehen muss, sondern nur Beschreibungen von multiplen Abläufen im System in ihrer polykontexturalen Wirkung auf andere Systeme. Um die soziale Wirklichkeit zu beschreiben, muss man den gewohnten Rahmen verlassen; ansonsten gerät man in die Schwierigkeit der Abhängigkeit von Ideologien und Vorurteilen und der Verfestigung sozialer Missstände. Verdächtig ist, wenn Menschen so funktionieren, wie wir es gewohnt sind, wie die Etablierten es gerne hätten. Ein Eintreffen der Vorhersage bedeutet, dass Menschen unfrei sind, denn vorauszusagen ist nur das, was sich nicht ändert.

 

Man möchte innerhalb systemisch-soziologischer Theorien weniger voraussehen, was sowieso wahrscheinlich geschehen wird, sondern erfassen, WIE soziale Systeme sich praktisch verändern. Indem der Fokus auf die Veränderung gelegt wird, entsteht sofort die Frage der Struktur und Gesetzmäßigkeit. Die Synthese der Gegensätze durchbricht das gewohnte kausale Denken mit seiner leichtfertigen Annahme von „psychologischen“ Gesetzmäßigkeiten und Schuldzuweisungen an die, die schon immer benachteiligt waren. „Weil er den Mars im 8. Haus hatte, musste er zum Gewalttäter werden und in eine „schlechte Familie“ geboren werden.“ Es ist klar, dass dies so nicht ist. Dem Mars steht immer eine Venus mit gutmütigen Eigenschaften bei, deren Auswirkungen in diesem Bild unterdrückt werden.

 

Es braucht allgemein eine „Formel“ oder eine „Gesetzmäßigkeit“, um ein Bild zu bekommen, eine Analogie, die wir uns bezüglich eines bestimmten Sachverhalts vorstellen, um das Gegenteil in Synthese zu bringen. Dieses Bild stellt die paradoxe Rekursivität (Selbstbezüglichkeit) der Aussage auf den Kopf. Wer Mars im 8. Haus als Gewalttäter interpretiert, möchte die Ausnahme von der Regel erleben, seine Aussage als „Hinweis“, dass es nicht passiert, wissen. Die Umschreibung:„Mars im 8. Haus hat Konfliktpotential, aus dem besondere Lösungsmöglichkeiten resultieren“ zeigt ein Bild, dass den Prozess möglich macht, innerhalb dessen die Gewalt integrierbar ist.

 

Astrologie und soziologische Systemtheorie haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind beide sowohl Theorien, die soziale Entwicklungen objektiv beschreiben wollen, als auch paradoxerweise  Kommunikations-Systeme mit universellem Wahrheitsanspruch. Beide Theorien sind holistisch in dem Sinne, dass sie soziale Interaktionen und Kommunikationen gleichermaßen beschreiben wollen. Da sie den Zufall durch ihre Entscheidung für die Determination, also die Abhängigkeit von Konstanten selbst erzeugen und in ihrem eigenem System zu wiederholen gezwungen sind, werden ihre Aussagen allerdings schnell beliebig und für viele Menschen unverständlich. Sie funktionieren nur innerhalb des eng codierten Rahmens für den, der sich die Mühe macht, sich selbst in diesem zu erblicken.

 

Ihr binärer Code ist an der Zeit selbst orientiert ähnlich, Astrologie wie Systemtheorie entscheiden zwischen Determination und Zufall von Aussagen in Bezug auf eine offene Umwelt. Da ein System seine eigenen Entscheidungen nicht gleichzeitig beobachten und unterscheiden kann, ist eine etwaige Zukunftsbestimmung in Hinsicht auf die „Wirklichkeit“ offensichtlich unsinnig. Zukunft ist genau das, was paradoxerweise weder Astrologie (als „Hüterin der Zeit“) noch Systemtheorie (das System der Systeme) objektiv beschreiben können, weil die Art, wie wir uns Zukunft vorstellen, von ihnen selber maßgeblich beeinflusst wird (in ihrem Ideal der „befreienden Erkenntnis“ über sich selbst). Im Moment der Entscheidung, ob etwas für uns Bedeutung hat oder nicht, bilden wir eine im außen gemachte Unterscheidung in uns selbst ab. Wir können nicht gleichzeitig im Außen beobachten und im Inneren objektiv vergleichen, ohne die eigenen (zeitgemäßen) Vorstellungen zu projizieren.

 

Wenn Astrologie aber gar keine Zukunft bestimmen kann, was ist dann ihr Sinn? Sie erschafft Vorstellungen über Zukunft, (die sie nicht kennt). Gerade aber weil sie keine konkreten Aussagen macht und nicht in die Theorienfalle läuft, erhellt sie den Mechanismus, der uns glauben lässt, dass eine bestimmt Entwicklung ansteht und ein bestimmtes Ereignis eintreten wird, wenn wir uns auf eine ganz bestimmte Weise verhalten. Systemtheorie und Astrologie beobachten sich selbst, wie sie andere beobachten. Sie reflektieren innerhalb eines engen Rahmens ausschließlich auf einen selbstgesetzten Satz von Begriffen und Beschreibungen. Für beide gilt deshalb gleichermaßen, dass die Kontrolle der eigenen Aussagen oberste Priorität hat, da sie blind sind für die eigene Beliebigkeit. Astrologie ist gewissermaßen eine Art Protosystem für frühe funktionale Differenzierungen anhand von sich verändernden Gesellschafts-Kategorien. Ihre Struktur erweckt dabei den Anschein einer gewissen „Ursprünglichkeit“ ihrer Symbole und Metaphern und bleibt gleichzeitig aber variabel für moderne Interpretationen.

 

Die epochal und kulturell stets unterschiedlich rekonstruierten und interpretierten Signale bleiben in ihrem jeweiligen Kontext in der traditionellen Bedeutung erhalten, indem sie sich auf etwas beziehen, was mit unserer eigenen Handlung vereinbar bleibt – wenn denn die Tradition der Mythen und eigenen Geschichte gepflegt wird. Sobald sie sich ändert, ändert sich auch der Symbolgehalt der astrologischen Kategorien. Ein Wassermann war früher saturnisch systemimmanent in seiner Auseinandersetzung mit der Norm, heute ist er uranisch individueller, den gestiegenen Sachzwänge fast trotzig gegenüber. Trotzdem bleibt er ein kreativer, der Gemeinschaft verpflichteter Wassermann. Mit Lilith und Chiron haben wir zwei Wirkpunkte, die alte Qualitäten in neuem Gewand präsentieren. Astrologie bleibt mysteriöser weise selbst immer ein „Klassiker“, obwohl sie sich laufend verändert. Dies funktioniert durch ihre grundsätzliche Offenheit gegenüber der Welt und der Annahme unveränderlicher interner Wertfunktionen.

 



[1] ebenda S. 77

[2] Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, 1985, Band 3, S. 166

[3] Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie, 1978, S. 36

[4] Günter Figal, Martin Heidegger, 2007, S. 85 s. o.

[5] Ebenda S. 73

[6] Ebenda S. 79

[7] Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Basel 1939, Bd. II, S. 322

[8] Norbert Elias, „Über die Zeit“ Frankfurt, 2004

[9] Wikipedia 2011

[10] Aber auch wenn diese Frage geklärt wäre, müssten hunderte andere Anfänge definiert werden. Beginnt z.B. der progressive Mond mit dem Übergang über den Aszendenten, über die Sonne oder über den Radixmond?

[11] Die ältesten Schalen und Hölzer mit Einkerbungen, die der Zählung von Monaten und Planetenläufen gedient haben, sind über 20.000 Jahre alt.

[12] Sonnen- und Mondfinsternisse sind besonders geeignete Himmelsereignisse um eine beeindruckende Vorhersage wahr werden zu lassen.

[13] Darüber hinaus mag es auch eine „Wirkung“ durch unbekannte Kräfte geben. Primär aber geht es um die Beschreibung von persönlichem Erleben der Zeit und ihren unterschiedlichen Qualitäten. Der Mayakalender etwa mit seiner Periode von 260 Tagen zeigt, dass die Symbolik unabhängig von Fixtsternhimmel, Jahreszeitenbezug und „realen Objekten“ funktioniert.

[14] Pitirim Sorokin, Social and Cultural Dynamics (1937, 1943)

[15] wikipedia 2011

[16] Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Kap4/VIII

[17] Es ist z. B. denkbar, dass etwas über die Lichtgeschwindigkeit hinausgeht und die Energieformel E=mc² geändert, bzw. ergänzt werden muss.