Sich selbst erkennen, ist die erste aller Wissenschaft Sokrates

 

 

Identität im Horoskop

 

Das Horoskop ist ein Bild unseres Selbst. Doch was ist das Selbst überhaupt? Sobald wir anfangen, uns selbst zu beschreiben, verändern wir uns schon. Die Vermittlung zwischen Ich und Realität ist ein Prozess der Klärung von Widersprüchen. Das Erzählte ist in seiner Präsenz schon Vergangenheit, die Sprache fängt in ihrer Kreativität den Riss zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Indem ich mich als arbeitslosen Schriftsteller sehe, habe ich schon ein Bild entworfen, dessen Anspruch ich mit der Wirklichkeit verbinden muss. Das Ich ist immer ein Ich in Bezug auf etwas Anderes, das die Möglichkeit eines anderen Geschichtsverlaufs offen lässt. Ich kann mich auch als philosophischen Rebellen betrachten, indem ich den Rahmen wechsele. In jedem Fall muss ich ein Ganzes konstruieren, auf das ich mich beziehen kann, um der reinen Aufzählung des technischen Zeitverlaufs der Biographie eine Logik abzugewinnen. Zeit wird dort menschlich, wo sie den Modus des Narrativen, Erzählenden gestaltet wird. „Arbeitsloser Schriftsteller“, „philosophischer Rebell“, „begabter Autodidakt“ usw. sind mögliche Bilder für die Selbstidentifikation innerhalb der sozialen Normen, die ein zeitliche Kontraste und Entwicklungspotentiale vorgeben.

 

Diese Mimesis, die Darstellung des Selbst in Bezug auf ein symbolisches Vorbild, findet sich in der Struktur des Horoskops wieder. Die vier Eckpunkte des Horoskopes spiegeln die Bezugspunkte des Selbst. Das Selbst kann eine abstrakte Anschauung seiner selbst entwickeln und z.B. über die Rolle des „arbeitslosen Schriftsteller“ oder den „philosophischen Rebell“ in der sozialen Realität wiederspiegeln. Der Eindruck eines Selbst entsteht da, wo es überzeugende Konzepte zur Umorientierung, Anpassung und Unterscheidung braucht. Dafür brauchen wir „den Anderen“, die direkte und auch emotionale Auseinandersetzung mit den Positionen eines anderen Menschen. Denken ist nur ein Teil eines Entscheidungsprozesses, der umso besser funktioniert, als er mit „sinnvollen“ Gefühlen und Emotionen begleitet wird.[1] Das Konzept eines eigenen Selbst entsteht durch den Prozess der Willensbildung und der Übung, einem anderen Menschen als Eigenständiges Selbst trotz emotionaler Differenzen und Meinungsverschiedenheiten begegnen zu können. Es gibt kein selbstkritisches Ich ohne ein DU und es gibt kein DU ohne die symbolische Idee eines Ich. Ich und Selbst sind dabei nicht ganz dasselbe, wie der amerikanische Philosoph George Herbert Mead zu zeigen versuchte, sondern Repräsentationen von Erinnerungen, die unser Gehirn verarbeitet.

 

Symbole entstehen für Mead aus der Optimierung der Kooperation von Subjekten: Der Mensch nimmt wahr, dass sein Verhalten der Reiz für das Verhalten anderer ist und versucht so, den Austausch zu kontrollieren. Die stimmliche Geste in Ausdruck und Aussage wird als Gegenüber wahrgenommen. So können wir mit unserer Geste die Reaktion des Gegenübers verbinden und so entsteht ein Symbol gemeinsamer Kommunikation. Damit entsteht auch die Möglichkeit zum Selbstbewusstsein: Indem man sein Verhalten aus der Perspektive anderer kontrollieren kann, ist man aus dem Status des nur handelnden Subjekts entlassen. Man kann sich selbst zum Objekt werden aus der Perspektive der anderen und man kann sich in die Lage der Anderen versetzen, um sein Verhalten zu reflektieren. Dies ist notwendig für das Selbstbewusstsein, weil der Mensch sich als Subjekt seines Handelns nicht erfahren kann: Das Erleben des eigenen Erlebens erlebt man nicht aus der Perspektive des gerade Erlebenden.

 

Eine weitere Dimension tritt in der Beziehung des Selbst zu einem gemeinschaftlichen Wir (Ziel, MC) und einem numinosen Es (Unterbewusstsein, IC). Unser Selbst existiert durch die Abarbeitung an einem  Beruf, den wir ausüben (oder der Berufung, der wir folgen), dem Freundeskreis, sowie der Familie. In diesen Relationen erscheint das Selbst als Teil einer selbstorganisierenden Gruppenkonstitution, die jeweils durch eine Kontaktperson hervorgehoben wird. Je stärker die äußeren Strukturen sind, die auf den Menschen einwirken, desto dringender wird die Entwicklung der eigenen Bedürfnisse (ES), die bereits unterbewusst latent vorhanden sind. Das Selbst steht also immer in einem Spannungsbogen gesellschaftlich vorgefertigter Beziehungsstrukturen, aus denen es nicht ausbrechen kann. Das Horoskop hilft uns, uns selbst in Bezug auf die vielschichtige Realität zu konstituieren und Einflüsse im Außen oder in der eigenen Wahrnehmung bewusst zu machen.

 

Diese Betrachtung beruht auf der Schaffung einer potentiellen Zukunft, in der wir unser Bild des Selbst verorten und daraus auf unsere Vergangenheit zurück beziehen. So besitzt ist die Erinnerung die mit jeder Situation eine andere ist, durch ihre Zielausrichtung trotzdem eine kontinuierliche Identität.  Mit anderen Worten: Wir variieren die uns konstituierenden Voraussetzungen solange, bis wir das für uns passende Bild im Gedächtnis abrufen können. Die fragmentarischen Ereignisse des Alltags warten auf ihre Fortsetzung unserer Selbsterzählung. Das Horoskop dient als „virtuelle Speicher“ der Symbole und Mythen der Menschheit,  es gibt kein Selbst ohne eine Kosmologie; kein Mensch ohne Schöpfungsgeschichte; kein Ich ohne biographische Erzählung, die sich in fiktiver Weise auf etwas nicht weiter zu dekonstruierendes bezieht - die Ganzheit eines Mythos oder Bildes, die uns vermeintlich betrifft. Oliver Sacks beschreibt in seinem ersten Buch, das inzwischen ein Klassiker ist,  mehrere Variationen von Gedächtnisausfällen, die zeigen, wie das Selbst sich trotz Realitätsverlusts zu orientieren sucht und eine überzeugende Geschichte präsentieren will; auch wenn es von seinen Ausfällen nichts weiß.[2]

 

Die Systemtheorie stellt dazu fest, dass es zur Vorstellung eines Selbst immer eines Beobachters braucht, der weiß, dass er selbst beobachtet und beobachtet wird. Unter der Voraussetzung der Gewissheit des Beobachtet Werdens entsteht Reflexivität und Selbstbezug. Und daraus Komplexität. Je öfter wir uns einem Thema widmen, desto facettenreicher wird es. Betrachten wir unser eigenes Horoskop, so wissen wir, dass wir es beobachten und dass uns andere dabei beobachten, dass wir es beobachten. Die Art und Weise, wie wir es beobachten (mit welcher Technik, mit welcher Absicht, mit welchen Folgen), wirkt zurück auf den Beobachter, der sich selbst ebenfalls beobachtet, wie er uns beobachtet. Daraus entsteht mehr und mehr ein gefestigtes Bild. Astrologie ist der Versuch, Persönlichkeitsmerkmale in einen zeitlichen Zusammenhang von Planetenbewegungen zu stellen und die damit verbundenen Erfahrungen systematisch zu ordnen. Doch Zeit, Identität und System sind schwer zu greifende Begriffe. Wir meinen, gut zu wissen, wovon dabei die Rede ist; je genauer wir allerdings hinschauen, desto schwieriger wird es. Der Subjektbegriff wird in der modernen Philosophie gemieden, weil er selbstreferentiell ist.

 

Aussagen über einen Menschen können nur von Menschen getroffen werden, die selbst schon in der Kategorie Mensch denken. Den „Mensch“ hat also noch niemand gesehen. Auch der Systembegriff bereitet Schwierigkeiten, weil er keine genaue Definition besitzt. Je nach Betrachtung kann alles ein System sein; vom Wolkenhimmel über einen Fischschwarm bis zu einer Paarbeziehung. Physiker beschreiben berechenbare Strukturen, wenn sie von Systemen sprechen; in der Soziologie gibt es keine zugrunde liegenden „Gesetzmäßigkeiten“, die die Handlung des Menschen bestimmen. Die von ihm gebildeten Gesellschaftssysteme sind selbstorganisierend. Dazu kommt der Zeitbegriff, um den sich Generationen von Denkern bemüht haben und sich doch auf keine Definition einigen konnten. In Einsteins Universum ist die Zeit gar nur noch eine ersetzbare Variable zwischen anderen und keine fundamentale Größe mehr.

 

Die Astrologie mit ihrem Anspruch Persönlichkeitsmerkmale und Lebensereignisse objektiv beschreiben zu können, muss sich der Frage stellen, wie ihre Urteile zustande kommen und in welcher Begrifflichkeit sie arbeitet. Was ist Persönlichkeit? Wie kommt der Eindruck von Identität in einer Welt voller Veränderungen zustande? Was meinen die Astrologen, wenn sie von Zeit sprechen? Und welche Systeme werden von den astrologischen Aussagen berührt? Sie funktioniert, weil die Gesellschaft aus selbstorganisierten Institutionen besteht, die eine  sich selbst strukturierende Sprache sprechen, die ihren Ausgangspunkt in der unendlichen Vielfalt zeitlicher Zuordnung von Planetenläufen zu menschlichen Erlebnissen hat (und nicht weil sie ein Ereignis vorhersagen kann). Für Heidegger muss für den Redenden die Möglichkeit einer unbegrenzten Vergegenwärtigung gegeben bleiben, um den Verfall des Verstehens aufzuhalten; die grundsätzliche Möglichkeit der Rückkehr an den Ausgangspunkt, bevor der Sinn entstellt zu werden droht. [… Die Gewesenheit in der Welt erscheint immer im Verhältnis zu einer bestimmten Möglichkeit des Verhaltens, die aus der Zukunft des bevorstehenden Seins in der Welt ergriffen wird, sie ist der Möglichkeitsraum für dieses Verhalten… es ist klar, dass die Rede auf den bestimmten Vollzug angelegt ist….][3]. Wäre die Zukunft nicht unbestimmt, bräuchten wir uns nicht zu überlegen, wie wir sein wollten. Wir sind für Heidegger, weil wir uns selbst in die Zukunft einschließend schauend sehen und das (ausgeschlossene) Vergangene auf die Gegenwart legen. Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein, Identität hat mit der Möglichkeit zu tun, die eigene Position in einer möglichen Zukunft zu bestimmen.

 

Das Horoskop beruht auf einer systematischen Symbolbildung, die den Anspruch hat, Persönlichkeit und Identität durch zeitlich, synchrone Verläufe von Planetenbewegungen zu beschreiben. Das Individuum wird zum Abbild seines persönlichen „Zeitsystems“.[4] Im normalen Sprachgebrauch schließt sich das Ich und das System aus. Das Gesellschaftssystem scheint zwar aus Menschen bestehen zu können, doch wie Luhmann zeigte, ist dieser Eindruck falsch. Das Gesellschaftssystem und seine Institutionen bestehen aus den Operationen von Menschen, aus ihren Kommunikationen und deren symbolischen Repräsentationen. Der Mensch hingegen, ist angefangen von humanistischer bis zu poststrukturalistischer Sicht, niemals ein System, sondern ein autonomes Individuum, dessen Denken allein für es bestimmend ist. Es bedient sich höchstens der Gesellschaftssysteme, um höhere Freiheitsgrade auszubilden; fühlt es sich eingeschränkt, dann steht ihm jederzeit frei, die Institutionen zu verlassen. Dies ist die Definition des aufgeklärten, emanzipierten In-divi-duums, des unteilbaren Ganzen.

 

Wie aber kann es Identität geben, auf die sich ein Horoskop bezieht, wenn wir weder das Individuum, noch das es umgebende System genau beschreiben können, geschweige denn den Zusammenhang zwischen ihnen? Warum erleben wir Charakter, Persönlichkeit und Ich-Entwicklung und beschreiben diese in psychologischen Begriffen, wenn der Mensch ein reines Produkt seiner Umwelt ist und sich die Vorstellungen von Ich und System nur künstlich aufbaut? Man möchte mit dem radikalen Konstruktivismus antworten: Genau deshalb! Weil sich das Gehirn sich nicht selbst begreifen kann. Weil es ein „künstliches“ Bewusstsein aufbauen muss, um die Gegenwart zurückzuholen, die es durch seine Denkprozesse verlässt. Zukunft und Vergangenheit sind Produkte unserer Vorstellungen, die erst durch ein Gedächtnis möglich werden. Indem wir uns im Denken auf etwas beziehen, ist dieses automatisch schon Geschichte.

 

Ist der Mensch ein „aus der Zeit“ gefallenes Tier, das sich seine Geschichte selbst erzählen muss, um „in der Welt“ zu sein? Das sich eine (Schein)-Persönlichkeit aufbauen muss, ein „Ich-System“, um in den von ihm konstruierten Vorstellungen selbst vorzukommen? Und entsteht die Vorstellungen von Zeit nur aus dem Grund, weil es uns unmöglich ist, für mehr als ein paar Sekunden in der Präsenz zu verweilen und ansonsten die Mühlen des Verstandes einsetzen, die zwischen alt und neu, in und out, spontan und langweilig unterscheiden? Wittgenstein erklärte: […Dass die Identität keine Relation zwischen Gegenständen ist, leuchtet ein. Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.][5]. Will man Identität von Außen erfassen scheitert dies daran, dass jede Frage neue Probleme aufwirft, so dass man aus logischen Gründen darauf verzichten möchte. Subjekt und Objekt müssen nicht in einer Beziehung stehen, die einem von beiden eine konkrete, unveränderbare Immanenz zuweist. Doch wer sind wir dann? Wen beschreiben wir in einem Horoskop?

 

Während unser Gehirn versucht, die Wirklichkeit zu berechnen, ist unser Bewusstsein mit uns selbst beschäftigt. Erik Erikson sieht Ich-Identität als: […Zuwachs an Persönlichkeitsreife, den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen haben muss, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein…][6]. Identität ist somit eine Integration alter psychosexuellen und psychosozialen Aspekte auf einer neuen Entwicklungsstufe in der Erwartung von Kontinuität der Bedingungen. Der Eindruck von Zeit entsteht in der Vergegenwärtigung des Vergangenen und des Zukünftigen, dass nicht mit der Gegenwart in Übereinstimmung zu bringen ist. Aus der Wiederholung solcher Vergegenwärtigungen ergibt sich ein Entwicklungsaspekt; die Dinge bewegen sich geleitet durch unser Gedächtnis in eine bestimmte Richtung; Menschen werden älter, nicht jünger, die Kraft lässt nach, je länger man Fußball spielt und nimmt nicht zu und der Tag wird länger, wenn es Frühling ist. Alle drei Aussagen sind Mischungen aus Beobachtungen, Intuitionen und Kalkulationen, die wir viele Male durchgeführt haben und die uns Annahmen machen lassen über eine Welt von morgen. In dieser „entwickelt“ sich der Stein vom Ausgangspunkt seines Wurfes in einer bestimmten Parabelform zum Ziel hin. Doch physikalisch hat er nur seine Koordinaten der Raum-Zeit geändert. Wir vermenschlichen den Stein durch die Übertragung des Entwicklungsgedankens auf die Materie.

 

Um unsere Theorien zu stützen, bilden wir künstliche Pole, zwischen denen sich die handelnden Personen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewegen. Entwicklung bedingt Wechselwirkung und umgekehrt. In der Erinnerung gibt es „unendlich viele Universen“, aus denen sich viele Vergangenheiten und Zukünfte ableiten lassen. Doch in der momentanen Wirklichkeit gibt es nur mich als Handelnden. Zeitvorstellung ermöglicht die Bildung von Parallel-Strukturen, sowohl im Ich  als auch im System, und dient damit für Luhmann der Entparadoxierung der chaotischen Welt, die im Moment nicht bewältigbar ist. Das Gehirn kann in einer chaotischen, unberechenbaren Umwelt langfristige Identität kreieren, indem es systematische Entwicklungspotentiale in der Zeit schafft.[7] Selbstbewusstsein entsteht auch für Peirce dadurch, dass die Repräsentationen als Zeichen im Bewusstsein sich selbst zum Gegenstand werden: […Aus der allgemeinen Masse des Bewusstseins, das noch frei von jeder deutlichen Bestimmung ist, löst sich plötzlich eine etwas bestimmtere Idee – das „Objekt“ oder das „Nicht-Ich“ – wie ein Kristall aus einer Lösung und „wächst“ wie ein „Kristall“, während der Rest des Bewusstseins – die Mutterlösung sozusagen -, das „Ich“, sich scheinbar, wie es gewesen ist, seiner neuen Geburt als „seine“ eigene rühmt, blind gegenüber der noch unterentwickelten Anregung, die als Nukleus vorhanden gewesen sein muss…][8].

 

Die Entwicklung zwischen zwei Polen und die Berechnung einer gewissen Wahrscheinlichkeit von Ereignissen ist für Peirce eine Grundfigur der Asymmetrie unserer Sprache, die wir nicht verlassen können.[9] Entwicklung selbst ist ein Wert, den es anzustreben gilt, doch er kann nur in dem Maßen verwirklicht werden, wie auch unvorhergesehene, schöpferische Tätigkeit stattfindet. Entwicklung ist nicht planbar, sie verläuft in Schüben und gerade aus der Bereitschaft heraus, nicht den normatischen Vorgaben von dem zu folgen, was gerne als „Entwicklungsfördernd“ verkauft wird – und seinem eigenen Weg zu vertrauen. Die Deutungshoheit eines Systems bleibt immer bei ihm selbst, es kann nicht von außen gegeben werden.

 

Etwas muss sich verändern können, um von uns als Einheit erkannt zu werden. Das war schon die Grundfigur von Hegels Dialektik, in der die Einheit nur aus der Differenz von Einheit und Differenz erzielt werden kann, ein fortlaufender Prozess der Sprache, die sich aus Gegensätzen konstruiert, die nach Auflösung und Entwicklung rufen. Wenn wir von Persönlichkeit sprechen, dann meinen wir, dass jemand etwas aus einem früheren Zustand entwickelt hat.[10] Identität ist ein Prozess, der nach bestimmten Erwartungshaltungen abläuft. Wenn jemand „keine Persönlichkeit“ besitzt, dann meinen wir damit, dass er chaotisch handelt, unberechenbar und scheinbar sinnlos. Entwicklung ist immer etwas sinnvolles, sinnstiftendes, das einen Prozess zwischen Betrachter und Subjekt anregt; jeden Tag von neuem beginnend. Prometheus war derjenige, der den Menschen das Feuer (der Erkenntnis) brachte und der schließlich an den Felsen gekettet durch das Erleben des Stillstandes jeden Tag dieselbe Mühsal erlebte und dadurch die fehlende Entwicklungsmöglichkeit und das Verlangen nach „Erlösung“ (die der sterbliche Chiron ihm dann gewährte, indem er sich für ihn anketten ließ) umso stärker empfinden musste. Ähnlich auch Sisyphos, der jeden Tag den Stein auf den Berg rollte und darin derselbe blieb, weil es „niemals derselbe Krug ist, der zum Brunnen geht“. [… Der Begriff der personalen Kontinuität beinhaltet auch, dass Personen sich über die Zeit, im Lebensverlauf und auch in unterschiedlichen Situationen und Lebenswelten als dieselben empfinden. Kontinuität ist ein Prozess, kein Zustand … und hat einen zeitlichen und lebensweltlichen Aspekt. Wir knüpfen in jedem Moment an Zurückliegendem und Künftigem an. Personale Kontinuität ist dynamisch, sowohl mikrozeitlich als biographisch…][11].

 

Indem Menschen sich den Regeln der Gesellschaft unterwerfen, deren Symbolformen unter anderem durch die Astrologie vorgegeben sind, machen sie bestimmte Symbole der Kommunikation wahrscheinlicher und bestätigen damit unbewusst den Eindruck ihres Horoskops. Die Astrologie war nach Ernst Cassirer eine der ersten Versuche, diese symbolischen Erscheinungen systematisch zu ordnen und die Gesellschaft aufgrund von Typologien und psychologischen Mechanismen zu beschreiben. Mit ihrem Paradigma der Determination und der Behauptung, dass unser Schicksal zumindest zum Teil aus den „Sternen ablesbar“ sei, führt sich das astrologische Denken allerdings in eine systemimmanente Paradoxie. Je mehr ich versuche, im Leben einen roten Faden, eine Art Vorsehung zu finden, desto mehr wird sich dieses Leben als zufällig und beliebig herausstellen. Diese Paradoxie ist über das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Zeit und Kausalität auflösbar. Denn subjektives Zeitempfinden und objektive Kalenderzeitsind sind nur bedingt aufeinander beziehbar.

 

Das Gehirn sucht nach ähnlichen Abläufen, konstruiert Kausalitäten, um sich das Geschehen erklärbar zu machen und zieht mutmaßliche Schlussfolgerungen auch da, wo objektiv keinerlei Zusammenhänge bestehen. Dabei spielen verschiedene Heuristiken eine Rolle, wir erinnern uns beispielsweise besser an Dinge, die wir als wahrscheinlich in Erinnerung haben; wie etwa Glücksspieler in Hallen mit vielen Geldspielautomaten eher dazu neigen, ihren Automat mit weiterem Geld zu füttern, weil sie ab und zu jemand anderes beim Gewinnen beobachten und ihre eigenen Chancen dann höher einschätzen. Man behält die Gewinne anderer leichter in Erinnerung als die viel häufigeren Verluste (Verfügbarkeitsheuristik). Wir neigen auch dazu, von bekannten Eigenschaften einer Person auf unbekannte Eigenschaften zu schließen. Wenn zum Beispiel Person A Sympathie für Person B empfindet und generell Menschen sympathisch findet, die großzügig sind, wird Person A annehmen, dass Person B großzügig ist, ohne dafür irgendeinen Hinweis zu haben (Halo-Effekt).

 

Zeitwahrnehmung ist immer von innerem Erleben begleitet. Wie ich Dinge in ihrem zeitlichen Verlauf oder Kontrast einschätze hängt von meiner emotionalen Verfasstheit ab. Ob ich etwas als alt oder neu einschätze, ob ich von einem Ereignis angeregt bin oder mich innerhalb von Sachzwängen befindlich empfinde, ob ich das Gefühl habe, an einem Anfang teilzunehmen oder an etwas, was schon den Zenit überschritten hat, prägt wesentlich die damit verbundenen Gefühle. Um die Dinge überhaupt wahrnehmen zu können, müssen wir sie in Kontraste zerteilen, die einen Spannungsbogen von gut nach schlecht, interessant nach uninteressant, sinnvoll oder sinnlos usw. zeichnen. Aus der „Betroffenheit“ leitet Gehirn eine mögliche Entwicklung ab; es überschlägt die Möglichkeiten, die sich aus der Konstellierung der Ereignisse als gegensätzlich wirkende ergeben; eine Entwicklung, die zu einer „Ganzheit“ strebt und die es nur für das Gehirn selbst gibt. Psychologen haben viele Versuche unternommen, hinter die Verarbeitungsmuster des Gehirns zu kommen und das, was es als Kausalität intern reproduziert, um eine für es sinnvolle Welt zu konstruieren.

 

Der Eindruck einer Kausalität entsteht durch die Verwendung des Zeitbegriffs, der in der Physik als die Folge  von Bewegungen von Materie erscheint und von dem Bergson bemerkte, das er eigentlich ein Raumbegriff sei für Veränderung von Bewegung. Die eigentliche Zeit, die dem Raum entspricht ist die Dauer.[12] Wir leben in periodischen Zeiträumen, deren Ereignisse sich wiederholen, ohne dass zwischen ihnen notwendig kausale Beziehungen bestehen. Wir ordnen uns die Geschichte in historische Perioden, um die Gegenwart besser zu verstehen. Wenn wir daraus zukünftige Ereignisse postulieren, sollten wir darauf achten, dass wir keine Gesetzmäßigkeiten missachten, die für vorher als wahr betrachtet haben. Das nennt man Empirie und es macht uns für unsere Mitmenschen berechenbarer und angenehmer; dass sie davon ausgehen können, dass wir aufgrund bestimmter Prämissen handeln, die sie mit uns entweder teilen können, oder argumentativ widerlegen.

 

Die Neurosoziologie, die Funktionen des Gehirns mit denen der Gesellschaft in Verbindung zu bringen versucht, ist ein relativ neues Fach.[13] Bewusstseinssysteme und Gesellschaftssysteme operieren in erster Linie über Sprache und ihre Symbole; Verbindungen, die zeitlich nicht linear und reversibel sind, wie die der meisten physikalischen Prozesse. Biologische Zeitprozesse folgen einer eigenen „Logik“, die sich in unserer Sprache widerspiegelt. Weder „die Weltgesellschaft“ als solche ist im konstruktivistischen Sinne jemals erfassbar, noch das Subjekt, das diese Welt beschreibt. Doch beide sind aufeinander angewiesen; die Gesellschaft funktioniert nur unter der Maßgabe des Individuums.[14] Neurologische Erkenntnisse können helfen, Besonderheiten des menschlichen Handelns zu erkennen und positiv zu verstärken; beispielsweise werden hyperaktive, autistische oder hypersensible Merkmale besser verstanden und die damit verbundenen Fähigkeiten gezielt gefördert.[15] Am geeignetsten erweisen sich dafür momentan prospektive Längsschnittstudien, die Menschen über lange Zeit in ihrer Biographie begleiten und systematische Veränderungsmerkmale erfassen.[16]

 

Identität ist kein Zustand, sondern nach George Herbert Mead ein Prozess der Interaktion zwischen dem Menschen und der Welt. […Die Tatsache, dass sich jede Identität durch den oder im Hinblick auf den gesellschaftlichen Prozess bildet und sein individueller Ausdruck ist – oder vielmehr Ausdruck der für sie typisch organisierten Verhaltensweisen, die sie in ihren jeweiligen Strukturen erfasst –, ist sehr leicht mit der Tatsache zu vereinbaren, dass jede einzelne Identität ihre eigene spezifische Individualität, ihre eigenen einzigartigen Merkmale hat, weil jede einzelne Identität innerhalb dieses Prozesses, während sie seine organisierten Verhaltensstrukturen spiegelt, ihre eigene und einzigartige Position innerhalb seiner formt und somit in seiner organisierten Struktur einen anderen Aspekt dieses ganzen gesellschaftlichen Verhaltensmusters spiegelt als den, der sich in der organisierten Struktur irgendeiner anderen Identität innerhalb dieses Prozesses spiegelt…][17]. Auch für Piaget kommt Bedeutungsbildung erst durch die Verbindung von Gefühl, Erfahrung, Gedanke, Wahrnehmung zustande.[18] Das Gehirn erzählt sich zeitgleich die Welt anhand der eigenen Entwicklungsschritte, die es zurückverfolgt und schließt daraus auf seine eigene Identität, bzw. legitimiert sein Dasein im „objektiven Raum“ der Institutionen des „offiziellen Sprachgebrauchs“.

 

Zeitliches Verstehen ist dabei die Grundlage für die Fähigkeit zur logischen und kognitiven Verarbeitung; durch sie ist mitlaufende Selbstreferenz trotz unterschiedlicher Prozessabläufe in der Interaktion Gesellschaft/Individuum möglich. Darüber, wie wir Zeit verarbeiten gibt es noch keine einheitliche Theorie; zu komplex sind die damit verbundenen Phänomene. Körper- und Gehirnprozesse laufen auf unterschiedlichen Ebenen, zwischen denen keine direkten kausalen, und damit zeitlich einheitlich messbaren Verbindungen existieren. Jedes Organ hat seine eigene endogene „Uhr“ (Zirkidianrhythmen). Auch die Physiker sprechen nicht mehr von einer „einheitlichen Zeit“. Je nachdem, ob mit einer Atomuhr gemessen wird, Quarzfrequenzen, Isotopenzerfall, Ephemeridenzeiten oder anderen kosmischen Dimensionen kommen unterschiedliche Zeitabläufe zustande, die synchronisiert werden und über Naturgesetzlichkeiten erklärt werden müssen. Zeit ist für Niklas Luhmann allgemein die Folge des Versuchs, äußere Geschehnisse mit dem inneren Verständnis von Systemen zu koordinieren.[19] Sie entsteht quasi durch die Operationen eines geschlossenen Systems in einer offenen Umwelt; das Denken kann niemals gleichzeitig wahrnehmen und seine inneren Prozesse beobachten.

 

Die Astrologie hat im historischen Kontext einen bedeutenden Raum in der Frage eingenommen, wie sich subjektive Zeitempfindungen mit „objektiven“ Ereignissen in Einklang bringen lassen. Ihre Symbole bilden universelle Analogien, die sich in allen Sprachen wiederfinden, auch wenn sie nicht mehr in ihrem mythologisch-astrologischen Ursprung erkennbar sind. Die „Zeit des Mars“ ist die des Handelns, die der Venus des Liebens, die Zeit des Merkurs ist die des Verhandelns und so bietet die Astrologie 12 Bezugssysteme auf die Frager an, welchen Zeitbezug wir für die Beschreibung eines Phänomens wählen wollen. Das, was wir als Zeit verstehen ist von der jahrtausendealten, kulturellen Prägung abhängig; umgekehrt nehmen die Symbole und ihre moderne Interpretation Einfluss auf die Zeit. Das „Chillen“ mit der Wasserpfeife im bunten Zelt, die Rhythmen des Trance, „Slowfood“, Partys in White“, Rückzugsräume in Firmen und „Innenraumreisen“ sind beispielsweise Ausdruck einer „Entspannungszeit“ (Neptun), die die Antwort auf eine hektische Welt sind, in der die Räume der Stille knapp werden.

 

Der rekursive Vorgang der aktiven Erschaffung von Zeiterleben und (verzögerter) symbolischer Repräsentanz in unserem Gehirn erzeugt zahlreiche Widersprüche und Widerstände, an denen sich das Individuum entfalten und teleologische Prozesse entwickeln kann. […Was und jetzt zustößt, stößt tatsächlich einem Selbstbegriff zu, der auf der Vergangenheit beruht, auch jener Vergangenheit, die noch einen Augenblick zuvor Aktualität war…][20]. In der Astrologie kennen wir den Zusammenhang von Mars (Abbau von Antriebsüberschuss) und Venus (Bedürfnisverschiebung), der auch bei Freud zentral für die Ich-Bildung angenommen wird. Die damit verbundenen zeitlichen Empfindungen haben eine Verbindung zu geschlechtlichen Rollenmustern; des baldigen Anstreben eines Ziels, woraus die „männliche“ Logik der Leistung entspringt und der langfristig angelegten Planung eines wertebewussten Zustandes, woraus die „weibliche“ Logik der Kultivierung entspringt. Beide münden in Tautologien, Erfolg käme nur durch Leistung und Kultur durch Wertebewusstsein. Nichtdestsotrotz werden diese „Kausalitäten“ durch die Einübung von Rollenspielen in der Sprechpraxis eingeübt und im zeitlichen Empfinden des Um, zu und Sowohl, als auch verankert - um den Erwartungen der institutionellen Einrichtungen gerecht zu werden und sowohl die eigenen Bedürfnisse, als auch die der Anderen einzubeziehen. Merkur repräsentiert in der Astrologie überhaupt die Möglichkeit der gleichzeitigen Verarbeitung von Wahrnehmungen und Gefühlen. (Objektivierung). Zeitgefühl entsteht aus einem lebenslangen Lernprozess, der mit ca. 3 Jahren einsetzt[21] und durch die Sprache reflektiert und verhandelt wird. Zeitempfinden ist vor allem eine Frage der Sozialisation, die auf ein Werteempfinden abzielt und gegenseitige Erwartungserfüllungen an Entwicklung.[22] 

 

Was wir sehen in der Welt sind Dinge, die für uns eine reale Existenz haben. Der Tisch, auf dem unser Computer steht muss existieren, sonst würde unser Computer ins Nichts stürzen. Unsere Erfahrung lehrt, dass dieser Tisch auch von anderen Menschen als Tisch wahrgenommen wird. Doch stellen wir ihn zehn Meter weiter weg und machen ein paar Flossen dran, dann haben manche Schwierigkeiten, den Tisch noch wahrzunehmen. Sie sehen vielleicht einen Fisch. Und drehen wir ihn um und schrauben wir die Beine ab, dann haben wir nur noch eine Platte. Doch der Tisch existiert weiter als Repräsentation in unserem Gehirn. Er existiert, indem wir mit ihm in Austausch gehen und unsere Wahrnehmungsverarbeitung in Interaktion mit der Repräsentation geht, egal ob es sich um einen realen Tisch oder eine Illusion, erzeugt durch einen Laser handelt. Das Gehirn versucht ständig zu überprüfen, ob es in seinen Wahrnehmungen Täuschungen unterliegt. In der Hypnose und in traumatischen Ereignissen wird diese Prüfinstanz ausgeschaltet. Dann erleben wir die Welt noch stärker in persönlicher Färbung, zeitliche Inhalte vertauschen sich und kausale Zuordnungen werden umgekehrt. [23]

 

Nach Antonio Damasio baut sich unser Selbst durch die Interaktion mit den Repräsentationen zu jedem Zeitpunkt neu auf. Das Kern-Bewusstsein wird für jeden Inhalt, dessen wir uns bewusst werden, immer wieder neu erzeugt. Es ist die Erkenntnis, die sich materialisiert, wenn wir einem Objekt begegnen, ein neuronales Muster dafür erzeugen und entdecken, dass die nun prägnante Vorstellung des Objektes in unserer Perspektive gebildet worden ist und wir darauf einwirken können. Es gibt keinen schlussfolgernden Prozess, den wir dorthin führen, keinerlei sprachliche Vorgänge – es gibt einfach nur die Vorstellung dieses Objektes und gleich darauf das Empfinden, dass wir es besitzen. Das Kern-Bewusstsein ist das unmittelbare Empfinden unseres individuellen Organismus im Akt des Erkennens, wobei die Zeit von wesentlicher Bedeutung ist, da damit die ursächliche Verbindung zwischen der Vorstellung eines Objektes und unserer „Inbesitznahme“ hergestellt wird.[24]

 

Identität ist nur möglich, in dem Bewusstsein sich aus sich selbst heraus ausdifferenziert und die fremde Umgebung adaptiert. Das Gehirn entwickelt Lösungs-Konzepte für Situationen, die es durch die Handlungen des verbundenen Körpers selbst hervorruft, d.h. es problematisiert sich selbst, ohne dass wir und dessen bewusst sind. Für Luhmann enthält das Problem deshalb immer auch schon die Lösung. Als Teilnehmer von gesellschaftlichen Institutionen wissen wir, dass es anderen Menschen auch so geht und können von ihnen auf uns selbst schließen. Das heißt, dass Entwicklung immer im zeitlichen Verhältnis zu einem „Anderen“ geschieht, der Teilnehmer desselben sich entwickelnden „Projekts“ ist. […Kulturelle Studien werden von vornherein temporalisiert gesehen, sie existieren nicht außerhalb ihrer Produktion und performativen Hervorbringung, und enthalten immer schon ein Moment der Neuproduktion. Sie betonen die betonen die Verzeitlichung und Historisierung von Strukturen…][25]. Die weitere Entwicklung ist so gleichzeitig teilweise vorgegeben, als auch offen in dem Sinne, dass die Teilnehmer die Wahl haben, ein Problem im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiter zu problematisieren oder es sein zu lassen.

 

Soziale Wirklichkeit wird vor allem über die Untersuchung von Sprachstrukturen sichtbar gemacht, die auf Strukturen im Verständnis vor allem von Freud, Marx und Darwin abzielen.[26]  Sprache formt sich schon immer aus der „erzählten Zeit“, den Überlieferungen und der zeitgemäßen Anwendung der Symbole und Mythen, die mit unserem inneren Empfinden in Einklang gebracht werden müssen. Auch die neuen „Mythen“ des Marxismus, Darwinismus und der Psychoanalyse (und aller daraus entwickelten Psychotherapien) „schwingen“ in bestimmten Sprachformulierungen mit und „synchronisieren“ sich über die Träger ihrer Ideologien. Die neuere Soziologie zielt immer mehr auf das Verstehen neurologischer Prozesse beim Spracherwerb; der „grammatischen Persönlichkeitsstrukturen“, die sich aus dem Verstehen der „großen Theorien“ entwickeln. Je nachdem, ob man mit dem Augen Searls oder Derridas, Heidegger oder Wittgensteins, Foucaults oder Luhmanns auf den Gegenstand der „drei Mythen“ Gesellschafts- und Bewusstseinsentwicklung schaut, übt man verschiedene Identitäten auf ihre „Zeitgemäßheit“ und ihre Möglichkeit „Zeitkontraste“ aufzulösen, ein. 

 

Das Verstehen von Zeitzusammenhängen und Relationen von Objekten beginnt nach Erkenntnissen der Neurophysiologie und Verhaltenspsychologie ganz allgemein im Alter von ca. vier Jahren. […Kinder unter drei Jahren verfügen zwar über ein ausdifferenziertes episodisches Gedächtnis, doch erst im Alter von drei bis vier Jahren erinnern sie sich, selbst etwas erlebt zu haben… insofern ist auch das autobiographische Ich eine soziale Institution, die notwendig wird, wenn Personen sich von als verschieden von anderen erleben…][27]. Vorher haben Zeitwörter wie jetzt, gleich, nachher oder morgen keine Bedeutung für Kinder. Es fehlen die kognitiven Fähigkeiten, um Verhältnisse richtig zu erkennen und Objekte eindeutig zu identifizieren, weil ohne ein Gefühl für den Ablauf von Zeit kein subjektiver Eigenbezug hergestellt werden kann. Nach Piaget entwickelt sich spätestens ab dem 5. Lebensjahr die Fähigkeiten der „konkret-operationalen Intelligenz, gleichzeitigt entwickelt sich die aktive, soziale Interaktion.

 

Wahrnehmung hat etwas mit der neuronalen Verarbeitung von Reizschwellen und Zeitphasen zu tun. Baecker macht neuerdings (2013) den Versuch, in systemischer Weise die Form des Gehirns und seine zeitliche Selbstorganisation als Schöpferin seiner selbst zu begreifen. […Das Gehirn ist das Ergebnis einer Bifurkation und das Produkt einer Selbstorganisation…, die sich einem aktiven Geschehen sensomotorisch unruhiger Ereignisse, keiner geordneten Ontologie, verdankt. Die Form des Gehirns definiert nicht nur dessen Ort, sondern auch dessen Zeit. Das Gehirn ist nicht nur, es passiert auch…][28]. Die Funktionsweise des Gehirns determiniert für uns die Wahrnehmung der Welt, aber sie enthält gerade keinen Plan der Welt, keine vorgeformte Kosmologie, sondern einem konfliktreichen Zusammenspiel von Gehirnen und Organismen, die selbstorganisiert und autonom handeln. Baecker nimmt auch mit von Foerster an, dass das Gehirn mit Hilfe von dichotomischen Kontrasten in Paaren operiert, eine Theorie, die auch von Damasio aufgegriffen worden ist.[29]

 

Die vom Gehirn entwickelten Denkprozesse (Bewusstsein) sind die Grundlage für die Teilnahme am sozialen Miteinander und an der Entwicklung einer spezifischen, an zeitlichen Begriffen orientierten Kommunikation. Das Einüben von Zeittakten und Zeitnormen gehört zur Grunderziehung des Menschen, die sich vor allem durch das Erlernen der entsprechenden Sprachrhythmik und Modulierung zeigt, also der Fähigkeit, selbst die Muster zu erzeugen, die zur aktiven Gestaltung der sprachbestimmten Umgebung notwendig sind. Raoul Schrott und Arthur Jacobs stellten 2011eine Theorie vor, in der sie Sprache durch eine Struktur tropischer Stilformen beschrieben sehen, die durch ihre Taktierung einen typischen Sprechrhythmus vorgeben, der eine mitlaufende Information darstellt.[30] Ihre Kernthese lautet, dass wir der sind, weil wir uns selbst sprechen hören und dass sich Identität aus dem Erzählen der eigenen Geschichte ableitet, die einer selbstorganisierten Struktur folgt. Spätestens seit Damasios Bestseller „Ich fühle – also bin ich“ wissen wir um die Bedeutung von Gefühlen für das Denken und um die Bedeutung davon, inneres Erleben und äußere Kausalität in Einklang zu bringen. Luhmann hatte es trockener formuliert: Die Systemzeit (Eigenzeit des Bewusstseins) muss seine interne Zeit immer wieder mit den äußeren Abläufen koordinieren.  

 

Das Gehirn selbst bearbeitet nicht nur die eingehenden Informationen, sondern auch die eigenen Verknüpfungen, für die es eine abstrakte Matrix entwickelt, die an den kulturellen Symbolen orientiert ist. […Gehirne… können die Welt grundsätzlich nicht abbilden; sie müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in seiner Umwelt überleben kann…][31]. Gefühle und Emotionen helfen uns, innere Zeitempfindungen mit äußeren Prozessabläufen zu verknüpfen und einen „gesellschaftlich tolerierbaren“ Output zu bewirken. Libet zeigte, das das Gehirn bis zu einer Sekunde braucht, um eingehende Reize vor der Willensentscheidung intern zu verarbeiten, woraus der Eindruck des „Vorhergewussthabens“ entstehen kann.[32] Es gaukelt uns vor, dass unser Ich Wahrnehmung und Handlung unmittelbar gleichzeitig erfährt, während Ursache und Wirkung vertauscht sein können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Innenzeit und Außenzeit in einen Abgleich zu bringen und dabei die eigenen Unterscheidung von Innen und Außen als Unterscheidung mitlaufen zu lassen.[33]

 

Je lebhafter ein Eindruck ist, desto eher ist das Gehirn geneigt, das Wahrgenommene für real zu halten. Darin liegt aber auch das eigentlich spannende und nie Endende der Kommunikation. Sie kreiert ihre Symbole in Echtzeit, gegen den Widerstand der Vereinnahmung, die Abwehr gegen das Eindringliche. Gerade die feinen Unterschiede und subtilen Verweigerungen bilden die „Eigenheit“ des Bewusstseins des „Anderen“ ab und rufen zur Vernunft und Besonnenheit auf, während gleichzeitig die erlernten, konditionierten und institutionalisierten Erzählungen und dogmatisierten Sprachriten ablaufen, die eine eigene Machtstruktur begründen – einer geschlechtlich und politisch geprägten, die es gilt, historisch zurück zu begründen und in Verhältnis zu dem Anspruch der „Anderen“ zu setzen. Dabei wissen beide Seiten nichts voneinander, sie reden im Begriff Luhmanns in „doppelter Kontingenz“, d.h. beidseitiger Ahnungslosigkeit von den Motiven des Anderen. Das „System Astrologie“ erlaubt es, freie Äußerungen über die Empfindung interner Zeitabläufe in die Welt zu setzen, die eine scheinbar gültige Ordnung beschreiben. Der Klient des Astrologen versteht im Mechanismus der doppelten Kontingenz ebenfalls, was er will. Im Freiraum der Interpretation und der Eigenoperationen entsteht prozessualer Sinn und zeitliche Identität – oder auch nicht.[34]

 

Andreas Bleeck, Juli 2014



[1] Was die Essenz der Bücher von Damasio, Kahnemann, LeDoux, Roth, Metzinger, Goleman und vielen anderen ist, die um die Jahrtausendwende diese Themen einem breiten Publikum zugänglich machten. 

[2] Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, 1985

[3] Günter Figal, Martin Heidegger, S. 84

[4] Das Abbild des Horoskops entspricht spiegelbildlich den Gehirnfunktionen; linksseitige Betonung weist auf intellektuelle Einzelleistungen, rechtsseitige auf ganzheitlich, kreative Bearbeitung hin; Planeten in der oberen Hälfte eine Hervorhebung des bewussten Denkens im präfrontalen Cortex und Lernmuster aus Beziehung und Beruf; in der unteren Hälfte mehr auf eine Verwurzelung im emotionalen limbischen System, bzw. auf ein Schwerpunkt der Repräsentation für Familie und Körper.

[5] Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logicus Philosophicus, 5.5303

[6] Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973

[7] In Japan spricht man beispielsweise grammatisch in verschiedenen Formen von sich, je nachdem in welchen Zusammenhang und Beziehungskontext man sich stellt. Auf den Philippinen gibt es sprachlich überhaupt gar kein Ich, jegliche Beziehung wird aus der gesellschaftlichen Stellung konstruiert.

[8] Charles Peirce, MS 681, 12/13

[9] Helmut Pape: Charles S. Peirce zur Einführung, Junius, 2004

[10] Auch wenn nichts über das Leben dieses Menschen bekannt ist, wie bei Shakespeare, dann meinen wir einen Eindruck dieser Person aus seinen Theaterstücken zu haben

[11] Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, 1988 zitiert aus Barbara Keddi, Wie wir dieselben bleiben, 2011, S. 65

[12] Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena, 1908

[13] Durch Bücher von LeDoux, Roth, Damasio, Metzinger u.a. boomen zurzeit die Neurosciences, die sich in mit sozialpsychologischen Fragen beschäftigen; in der Genderforschung gibt es schon länger Untersuchungen über den Zusammenhang von Gehirnfunktionen und geschlechtlicher Ausrichtung.

[14] Identitätssuche ist also nicht nur ein Interesse des Subjekts, sondern auch der Gesellschaftssysteme, die auf autonomen Individuen aufbauen.

[15] Natürlich gibt es auch negative Begleitumstände, wie die zu hohe Medikamentation, doch ist dies auf die fehlende Bereitschaft von Ärzten (und Lehrern und Eltern) zurückzuführen, sich mit dem Gegenstand ausführlich zu beschäftigen und nicht auf die Forscher.

[16] Die allerdings meines Wissens noch nicht mit „astrologischen Variablen“ gefüttert wurden

[17] George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 1998, S. 245

[18] Jean Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung, Frankfurt, 1994

[19] Wobei für ihr die „Umwelt“ immer Teil des Systems ist, Umwelt entsteht erst durch die (zeitlichen) Operationen des Bewusstseins und der Kommunikationssysteme, mehr dazu im Kapitel Systemtheorie

[20] Antonio Damasio, Descartes‘ Irrtum, List, 2004, S. 318

[21] Der Zeitpunkt, an denen wir uns auch frühestens als selbsthandelndes Wesen erinnern können

[22] Es wäre allerdings eine müßige Frage, ob die Zeitkonstruktion der Entwicklung Werte hervorbringt oder umgekehrt, das Abzielen auf Werte die zeitliche Abfolge von Handlungen. Die Negierung funktioniert in beiden Fällen: Ein Verlust von Zeitgefühl führt zu einem Werteverfall und ein Werteverfall führt zu einem Entwicklungsdefizit und Verlust von Zeit.

[23] Dazu z.B.: Tuomela, R. Kausaler interner Realismus, 1991, van Fraasen, The Scientific Image, 1980

[24] Damasio, A. (2000): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins

[25] Moebius, Reckwitz, Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Suhrkamp, S. 16f

[26] Seit dem „Linuguistic Turn“ vor allem in den Sprachtheorien von Mead und seinem symbolischen Interaktionismus, bei Wittgenstein, Heidegger, Derrida, Merleau-Ponty und Searl, der die Sprechakt-Theorie entwarf, im Poststrukturalismus von Lacan und Barthes und auch bei Luhmann, die alle auf die drei „großen Theorien“ referieren.

[27] Markowitsch, Welzer, Das autobiographische Gedächtnis, Klett-Cotta

[28] Dirk Baecker, Neurosoziologie, Suhrkamp, 2013, S. 73

[29] Die vom Gehirn konstruierten Symbole und Repräsentationen tauchen immer in doppelter Form auf, um eine Unterscheidung von Innen und Außen zu ermöglichen und zwar einmal innerhalb des Systems und zum anderen in der ansonsten nicht greifbaren „Umwelt“, die für das Gehirn so operierbar wird.

[30] Raoul Schrott, Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, Carl Hanser Verlag, München 2011

[31] Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Suhrkamp, 1997, S. 23

[32] B. Libet, 1978, Neuronal vs subjective timing for a conscious sensory experience. In: P.A. Buser, Cerebral Correlates of Conscious Experience. Elsevier, Amsterdam, S. 69

[33] Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp 2009, S. 193

[34] Deshalb spielt auch der Zeitpunkt der Beratung so eine große Rolle bei der Astrologie; er bietet beiden Seiten einen Orientierungspunkt am eigenen Bewertungsschema.