Woum gehts?

 

In der sozialen Arbeit geht es um konkrete Hilfen für Menschen, die ‚aus dem System zu fallen drohen‘. Doch was ist dieses System überhaupt? Die digitale Moderne erfordert einen neuen Umgang mit den Begriffen Mensch, System und Gesellschaft. Denn das Gehirn kann nicht anders, als systemisch zu denken, und diese in Wirklichkeit nur in unseren Köpfen existierenden Dinge jeder auf seine Weise wahrzunehmen. Es sucht nach einer Einordnung in das soziale System und seinen aktuellen Regeln, die von möglichst vielen getragen werden können. Gesellschaft besteht aus sozialen Systemen und aus Menschen, die sich Gedanken darüber machen, was noch zum System gehört und was nicht mehr. Und vieles droht im Moment ‚aus dem System zu fallen‘, was zum Selbstverständnis unseres Menschseins gehörte.

 

 

Aus dem Treffen von Unterscheidung entsteht allgemein Identität. Jeder kann selbst entscheiden, wozu er gehören will oder nicht, wenn er die Möglichkeit für freie Entscheidungen hat. Nur eines kann er nicht. Er kann nicht das System komplett ablehnen. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als ob gerade das das richtige wäre und heilend. Nach schweren Traumatisierungen ist das Gehirn z.B. auch gar nicht in der Lage, konsistente Bedingungen aufzubauen. In der systemischen Beratung kann dann auch nicht geholfen werden. Die Arbeit an dem eigenen System kann erst beginnen, wenn ein Verständnis der eigenen ‚Regelkreise‘ gegeben ist und Klarheit über die Möglichkeit besteht, sich sozial so einzubringen, dass stabile Beziehungen entstehen.

 

Es ist das Paradoxon von Systemtheorie und systemischer Therapie. Beide wollen eigentlich den Systembegriff auflösen und erschaffen ihn damit umso mehr. Allerdings auf so unterschiedliche Weise, dass ihre Paradigmen nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Doch sind es nur unterschiedliche Perspektiven derselben Sache. Einmal ‚von oben‘ aus der Sicht der Pyramidenspitze der Hypersysteme und einmal von unten aus der Sicht des ‚Betroffenen‘ und seines privaten Systems, das uns Hinweise auf Funktionsdefizite gibt. Beide folgen denselben Kommunikationsstrukturen und sind im ‚System Mensch‘ miteinander verbunden. Die geheimnisvolle Sprache dieser Verbindung und ihre spezielle Symbolik zu ergründen ist der Kern sozialer Arbeit (siehe Artikel ‚Die Welt der Hypersysteme‘). Im weitesten Sinne sind die Definitionen von Niklas Luhmann dafür geeignet. Ich habe leider nicht den vollen Überblick über seine Schriften und Gedanken, doch kann ich mir vorstellen, dass sie dahingehend erweiterbar sind, den Mensch wieder in das System zu holen und nicht nur als Umwelt, sondern auch selbst als System zu begreifen.

 

In dem Buch ‚Das System und der Dritte‘ geht es darum, die sozialen Regelkreise der Gesellschaft besser beschreiben zu können und sich über das Potential bewusst zu werden, mit dem wir selbst diese erschaffen. Jedes System ist gewissermaßen ein Spiegel unserer inneren Verfasstheit. Das können wir bei Aufstellungsarbeit immer wieder beobachten. Die Ordnung der mit dem System verbundenen Regelkreise ergibt sich aus der Weise, wie wir die soziale Welt gestalten. Aus meiner dreißigjährigen Beschäftigung mit Astrologie und systemischer Beratungspraxis habe ich eins gelernt. Je besser wir die Dynamiken verbalisieren können, die unser persönliches System hervorbringt, desto mehr Möglichkeiten gibt es, mit Konflikten umzugehen und flexible Lösungen zu finden. Macht bedeutet auch für Foucault vor allem Möglichkeit zur Teilnahme an den unterschiedlichsten Gesellschaftsdiskursen.

 

Das Erhalten von Variabilität ist umso wichtiger, als die Systeme unser Leben unnötig einengen können. Gesellschaft bedeutet immer neue Umgangsformen für die mit dem System erschaffenen Zwänge zu finden und die damit verbundenen Machtverhältnisse auszugleichen. Jedes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft ist dazu angehalten, sich aktiv daran zu beteiligen, dass jedem anderen Gerechtigkeit wiederfährt und die Chancen für alle gewahrt werden. Ansonsten zersetzt sich die Gesellschaft in Gewinnwahn, Egoismus und Verdrängungskampf.

 

Konflikte müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. Wir sind nie damit fertig herauszufinden, wer gerade wen übervorteilt und warum wer dem einen hilft und dem anderen nicht. Es ist ein labiles Gleichgewicht, und Ordnung können wir immer nur in unserem eigenen System schaffen und lernen, die dafür geeigneten Kommunikationen zu beherrschen und kreativ auszubauen. So erwerben wir nicht nur Respekt beim Gegenüber, sondern sind auch in der Lage, ihm entgegenzukommen, wenn es mal nicht so läuft. Stehen genügend Ressourcen zur Verfügung, muss ein Konflikt nicht bedrohlich sein und kann mit der Zeit mithilfe der anderen Teilnehmer unseres Systems gelöst werden.

 

Im Kern gehe ich davon aus, dass es zwei grundsätzlich unterschiedliche Kommunikationsarten gibt. Zum einen gibt es die hierarchischen Ordnungen und ihre symbolischen Sprechakte. Jeder Mensch strebt eine bestimmte Funktion in der Gesellschaft an, durch die er identifizierbar ist, seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und Angebote der anderen annehmen kann. Wenn er nicht gerade selbstständig ist, dann ist er den engen Regeln einer Institution unterworfen. Aber auch als Selbstständiger ist er u.U. Mitglied eines Verbandes, zahlt Steuern, macht Weiterbildungen und beschäftigt andere Menschen. Aus diesen Institutionen, die sich im Laufe der Jahrtausende immer weiter ausdifferenziert haben, formt sich die Gesellschaft und das, was ich als dyadische Rollenmuster bezeichne. Komplementäre Verhältnisse, die eine klare Hierarchie haben wie Vorgesetzter/Angestellter, Arzt/Patient, Richter/Angeklagter, Verkäufer/Käufer, Lehrer/Schüler, Trainer/Spieler usw. Wir unterwerfen uns den damit verbundenen Rollenspielen in dem Wissen, dass letztendlich alle davon profitieren, auch wenn es vereinzelt einen verantwortungslosen Umgang mit der durch die Rolle verliehenen Macht gibt.

 

Um diese Verwerfungen in den Griff zu bekommen, hat der Mensch eine zweite Kommunikationsart entworfen. In ihr geht es nicht um die Verfestigung eines Status Quo, sondern um die Auflösung von Vorurteilen und ein besseres Kennenlernen des Anderen. Jeder kann die damit verbundenen Rollen spielen und auch Teilnehmern aus höheren Hierarchien gleichwertig begegnen. Solche Kommunikationen sind tertiärer Art und somit nicht statisch festgelegt. Jeder ist dazu aufgerufen, Rollenwechsel zu vollziehen und auch unbequeme Positionen nicht zu scheuen.

 

Dreiecke bilden sich immer dann Leben, wenn notwendige Veränderungen anstehen. Sie verwirren uns, aber sie holen uns auch aus der Komfortzone heraus. Wir spielen sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Im Idealfall können sie die Falschheit des hierarchischen Gehabes entlarven und die Unlogik des Geschehens verdeutlichen helfen. Im weniger guten Fall werden wir missverstanden und müssen uns vorwerfen lassen, die Ordnung zu gefährden. Trotzdem werden wir immer wieder bereit sein, ‚Figuren des Dritten‘ zu spielen, weil es keine Alternative dazu gibt, wenn sich das System festgefahren hat, die Fronten verhärtet sind, und die Rollenspieler ihre angestammten Positionen nicht verlassen.

 

Sechs Levels des Lebens bieten sich als Steuerungsebenen für tertiäre Kommunikationen an. Im Buch geht es um die Beschreibung ihrer Funktionen und die Bedeutung als alternative Kommunikationsangebote. Auf jeder der Ebenen greift eine Leitunterscheidung, die den Leitunterscheidungen der ‘Big Five‘ aus der Persönlichkeitspsychologie und den ‚pattern variablen‘ von Talcott Parsons ähneln. Dazu kommt auf jeder Ebene eine spezielle Drittfigur, die den Trigger setzt und als Indikator für Veränderungen dient.

 

 

 

Am Beispiel des Sündenbocks soll dies deutlich gemacht werden. Er ‚funktioniert‘ auf der Ebene der Gruppenrollenspiele, also in Kleingruppen von 6-20 Teilnehmern, deren Hauptzweck es ist, einzelne in ihre kreative Potential zu erheben. Konflikte auf diesen Ebenen sind überschaubar. In einer Kleingruppe lässt sich vieles ausgleichen, was anderswo kompliziert würde. In den Institutionen ist wenig Raum für persönliche Begegnung. Wir schließen uns kleineren Arbeitsgruppen, Netzwerken, Vereinen, Selbsthilfegruppen usw. an, um mehr über uns und die anderen zu erfahren.

 

Es gibt viele Möglichkeiten, sich auf gleichwertiger Ebene zu begegnen. Trotzdem kommt es auch dort zu unlösbar erscheinenden Konflikten. Der Sündenbock hält sich innerhalb solcher Gruppen bereit, um das Geschehen sichtbar zu machen, der ursächlich nichts mit ihm zu tun hat, und stellt seine eigene Identität selbstlos zur Disposition, um den anderen eine andere Sichtweise zu ermöglichen. Jeder kann diese Rolle einnehmen. Er bringt im Mitmenschen die schlechte Seite hervor, die uns in Versuchung führt, die Situation seiner Schwäche ausnutzen lässt. Damit mahnt er an unsere Menschlichkeit. In Kleingruppen geht es vor allem um Gemeinschaft und darum, dass sich alle miteinander vertragen. So wird der Sündenbock nach vollzogener ‚Bestrafung‘ meist auch wieder rehabilitiert und bleibt wertvoller Teil in anderer Funktion. Wenn jeder gleichermaßen bereit ist, sich ‚für die Sache‘ zu opfern und ‚im Sinne des Burgfriedens‘ auch mal die ‚Arschlochkarte‘ zu ziehen, können größere Konflikte erst gar nicht entstehen.

 

Die Kategorie der Gemeinschaft kennen wir von Parsons und aus den Big Five. Parsons unterschied zwischen Gemeinschaftsinteresse und Eigeninteresse. Damit wollte er die Handlungen, die im Sinne des Gemeinwohls stehen von denen trennen, die nur auch sich selbst bezogen sind. Er unterstellte in der Nachfolge von Tönnies die Wichtigkeit von altruistischen Motiven bei Gemeinschaftsprozessen. Ähnlich ist es mit der Eigenschaft der Verträglichkeit. Wenn diese bei den Big Five ‚gemessen‘ wird, dann hat derjenige ein natürliches Interesse daran, sich mit anderen gut zu stellen und hilfsbereit zu sein.

 

Meine Idee ist nun, diese Eigenschaften weniger als Teil eines Charakters, sondern einer sozialen Situation zu erkennen, die bevorzugt gesucht wird. Streben nach Verträglichkeit hat auf der Ebene der Primärgruppen eine regulierende Relevanz. Sie steuert, wie in der Graphik angedeutet, den Ausdruck zwischen den Polen des Anpassers und des Kreativgeists. Je mehr wir nach Gemeinwohl streben, desto eher ist es für einen einzelnen möglich, seine besonderen Fähigkeiten hervorzubringen. Damit dies nicht wieder in einen Egoismus führt, ‚misst‘ der Sündenbock gewissermaßen die Regelstrecke, überprüft Motive und zeigt an, wo wir auf der Skala bezüglich des Gemeinschaftsgedankens etwa von 1 bis 10 stehen.

 

 

So entsteht ein sozialer Regelkreis, der neben den offiziellen Hierarchiemustern einer Institution mitlaufen kann, und in dem sich Menschen unterschiedlichsten Ranges wiederfinden. Eine offene Arbeitsgruppe kann beispielsweise innerhalb einer Firma eine Sonderaufgabe übernehmen und zu anderen Erkenntnissen als die Leitung gelangen. Dabei spielen Rangunterschiede nur eine untergeordnete Rolle. Es geht um Ergebnisse und darum, dass jeder das Gefühl hat, seine Idee wird wertgeschätzt. Wie die Hawthornestudie schon vor über 70 Jahren gezeigt hat, entstehen durch derartige Gruppen ein besseres Zusammenhörigkeitsgefühl und eine höhere Arbeitsmotivation. Doch muss natürlich dieser Geist auch gepflegt werden. Er ist nicht auf dem Reißbrett entwerfbar, sondern entspringt einer grundsätzlich sozialen Einstellung und der Bereitschaft zu Risiko, als Sündenbock zu gelten, wenn man die ‚Linie der Firma‘ über das Gruppenmotto hinaus verlässt. Wenn diese Bereitschaft nicht vorhanden ist, nützen die besten Managerseminare nichts.

 

Veränderungen geschehen immer von unten heraus. Jede soziale Bewegung hat ihren Ursprung in der Aktionsbereitschaft von zunächst einigen Wenigen, die an den Strukturen des Systems etwas ändern wollen. Mit der Zeit wird sie bei Erfolg selbst zu einem etablierten System und muss sich wiederum von neuen Kräften hinterfragen lassen. Das soziale System ist ständig in Bewegung. Jeder einzelne nimmt in diesen Prozessen unterschiedliche Rollen ein, die teilweise nur schwer miteinander vereinbar sind. Die einen Dinge empfinden wir als nützlich, die anderen als sinnlosen Ballast. Die dyadischen Beziehungen in den Institutionen funktionieren umso besser, als jeder bereit ist, gleichzeitig Drittrollen zu spielen und den Mut aufzubringen, über die hierarchische Kommunikation hinauszugehen. Vor allem dann, wenn es Konflikte gibt. Wo sich Menschen aus Angst vor Veränderungen oder gar Sanktionen einmauern, kann die Lebendigkeit nur schwer aufrechterhalten werden. Das System kann nicht mehr in Resonanz mit anderen Systemen gehen und die Gesellschaft nimmt an ihrer Unbeweglichkeit schaden und trifft falsche Entscheidungen.

 

 

 

Figur d. Dritten

Rollen-Ebene

Konflikt

Emotion

Disposition

Big Five

Regelstrecke

 

Homo

Sociolog.

 

Über-Ich

 

Advocatus Diaboli

Diskurs

Transparenz

Defizit

 

Verachtung

Zwang-haftigkeit

Gewissen-

haftigkeit

Nihilist -> Vermittler =

AD offen

Vermeider -> Kritiker =

AD zentriert

Homo Oekonom.

Milieu

Ressourcen-Mangel

Ekel

Hyper-

 Sensibilität

Streben n. Macht

Verschwender -> Bewahrer = HÖ proaktiv

Spielverderber ->

Wohltäter = HÖ untergründig

 

Selbst-

Behaupter

 

Ich-Ich

 

Sünden-bock

 

Gruppe

Intrarollen-

Dissonanz

 

Furcht

Angst-störung

Verträg-

lichkeit

Anpasser -> Kreativgeist =

SB indigniert

Exzentriker ->

Bystander = SB opfernd

 

Cyborg

 

Autorität

Autoritäts-probleme

      Wut

Agressivität

Offenheit

Selbstzweifler. ->

Leitbild = CY matriarch.

 Egoisten -> Versorger =

CY patriarch.

 

Emotional

Man

 

Es

 

 

Tertius gaudens

Gesch-

lechter

Rolle-Geschlecht-Differenzen

 

Trauer

Depression

Suche n. Stabilität

Angeber - > Muse = TG informiert

Nörgler -> Aktivist =

TG selbstgewiss

 

Trickster

 

Medien

Interrollen-

Konflikt

 

Überrasch.

Hyper-

Aktivität

Extrover-

tiertheit

Verräter -> Influencer =

TR personal

Aufbauscher ->

Gatekeeper = TR exponiert

 

Dies war das Beispiel eines Regelkreises auf der Ebene von Primärgruppen. Ausgleich kann neben den Rollen auf dieser Ebene auch in der Kommunikation über Geschlechterrollen, in der medialen Präsentation, im Diskurs, im Milieu und auf der Ebene von alternativen Autoritätsrollen erfolgen. Diese sechs Levels sind gewissermaßen als Redundanzen und Puffer ‚in das System eingebaut‘, um Extremausschläge abfedern zu können. Ihre ‚sozialen Spiele‘ lassen Variationen der Abläufe in einem festgelegtem Rahmen zu, und erhöhen oder reduzieren je nach Bedarf die Komplexität. Der Indikator dieser Regelkreise ist immer eine besondere Figur eines Dritten, den wir seit der Antike als besonderen Repräsentanten von sozialen Dynamiken und aus den Mythen, Erzählungen und Theaterstücken der meistenVölker kennen. Es sind neben dem Sündenbock der ‚Lachende Dritte‘, der Trickster, der Advocatus Diaboli, der Homo oeconomicus (Milieukenner) und der Cyborg. Sie spielen zu können, ist das Salz der ‚sozialen Suppe‘  und Voraussetzung für das Aufweichen verhärteter dyadischer Kommunikationen. Man könnte es auch andersherum betrachten. Die professionelle Beherrschung derartiger Rollen ermöglichen überhaupt erst größere Institutionen und eine Unterordnung des einzelnen im Sinne eines sozialen Friedens. Denn aus Zwang heraus wurde bisher noch selten ein erfolgreiches Unternehmen geboren.

 

In der narrativen Biographiearbeit und systemischen Aufstellungen geht es um Verbesserungen derartiger Kommunikationen und das Aufzeigen der damit verbundenen Potentiale in Sinne einer Individualisierung, wie sie die digitale Postmoderne von jedem fordert, ohne die dazu notwendigen Angebote aber ausreichend erfüllen zu können. Denn die Roboter können fast alles besser als der Mensch. Das führt unweigerlich zu Konflikten und Selbstwertproblemen, in die Unbeteiligte hineingezogen werden und die Vernunft scheitert. Jeder muss seinen ‚Beziehungsladen‘ neu ordnen. Wir sehen in der systemischen Arbeit ganz deutlich die Dynamik der damit verbundenen verwirrenden Dreiecksbeziehungen wirken und die positive Herausforderung, wenn die daraus erwachsende Aufgabe angenommen werden kann.

 

Die Grundfähigkeit menschlicher Intelligenz ist die sogenannte Mentalisierung, die von einer Maschine nicht erfüllt werden kann, weil sie keine autonome Einheit ist. Sie ist direkt mit allen anderen Einheiten verbunden und braucht keine symbolische Kommunikation, um sich mithilfe von abstrakten Ideen und Metaphern verständlich zu machen. Was eine dritte Maschine über eine zweite denkt, ist unerheblich, weil sie dieselben, direkten Steuerungebefehle erhalten. Sich aus der Position von Person B heraus vorstellen zu können, wie sie mich und weitere Personen sieht, ist beim Menschen aber die Voraussetzung für soziale Fähigkeiten und ein Gedächtnis, das die damit entstehenden Strukturen speichert. Diese Fähigkeit ist auch weitgehend gleichbedeutend mit dem, was wir an Intelligenz messen. Es ist eine Kombination aus abstrakten Vorstellungsvermögen und Einfühlung. Wenn er über Maschinen direkt miteinander verkoppelt würde, entstände keine Schwarmintelligenz, sondern der Verlust von Autonomie und der Zusammenbruch des persönlichen Bewusstseins-Systems. Ich muss nicht nur die Motive und Gefühlslagen der Menschen aus der Situation heraus erkennen können, sondern auch den jeweils nächsten sinnvollen Schritt mit ihnen vorausplanen können, ohne sie darin aber beeinflussen zu wollen. Und das erfordert, dass ich unabhängig von anderen handle.

 

Was als System so stabil wirkt, sind oft fragile Gebilde. Nationen, Konzerne und große Organisationen sind extrem anfällig für Störungen, weil sie sich nicht selbst bremsen können, andere normativ zu maßregeln. Sie neigen im Zweifelsfall dazu, sich an das Bewährte zu halten und verpassen den Zug der Zeit. Umweltzerstörung, Korruption, Krieg, psychische Erkrankungen und Hunger sind die Folge. Dies ist der Zustand unserer derzeitigen Welt. Doch die Kommunikationssysteme der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik, der Verwaltung, des Rechts, der Medizin, der Religion usw. sammeln immer mehr Wissen an. Lösungen kommen bei ihnen aus dem Kleinen und können sich dort entwickeln, wo Menschen auf überschaubare Weise tertiäre Kommunikationen üben, und sich mit praktischen Anwendung des Wissens so entwickeln, um daraus auch globale funktionierende Strategien entwickeln zu können.

 

Dezentrale Energieversorgungen, intelligente digitale Systeme, die auf lokaler Ebene alle verwendeten Materialien in einen sauberen Wertstoffzyklus geben, das Internet als basisdemokratisches Medium und Freiraum im Unterricht für selbstbestimmte Projekte sind beispielsweise solche Lösungen, die die Trägheit des Denkens überwinden helfen können und lebendige und authentische Kommunikationsstrukturen aufrecht erhalten. Dazu braucht es einen neuen Systembegriff und einen neuen Menschbegriff. Denn das eine wird sich mit der Digitalisierung des anderen ändern und mit ihnen das, was wir als Gesellschaft begreifen. Der Mensch steht in einer triadischen Beziehung mit den entsprechenden Systemen und Umwelten, denen er angehört. Seine Handlungen können oft nur kleine Impulse erzeugen, die sich manchmal aber zu großen Schmetterlingsschlägen ausweiten und eine neue Wirklichkeit hervorbringen können.

 

 

Andreas Bleeck, April 2018